„So wird ein Gedanke zur Realität“
– von Florian Kniffka
Phantastik – das ist die Literatur der Einbildungskraft. Hier bricht sie sich in ihrer freien Form Bahn und schert sich nicht um das Wirkliche oder auch nur um das Wahrscheinliche. Dass sie dem Unwirklichen eine Gestalt im menschlichen Vorstellungsvermögen gibt, das ist ihre besondere Eigenart. Die Materien, durch welche sie die Produktion der Einbildungskraft in die Welt gelangen lässt, sind nicht vorgeschrieben. Hier müsste nicht mehr nur von einer Literatur, sondern von einer allgemeinen Kunst der Einbildungskraft gesprochen werden.
Wenn nun zu den Worten der Sprache diejenigen der Bilder hinzutreten, dann sieht sich die literarische Theorie der Phantastik in einem gewissen Dilemma. Mich brachte die Auseinandersetzung mit dem Comic „Saga“ in dieses Dilemma. Dieser Text ist also der Versuch eines Buchstabenwurms, sich im Comic als Bild-Text-Medium zurechtzufinden. Gleichzeitig stößt er auf die Frage, welchen Anteil am Phantastischen die allegorische Utopie hat.
„Saga“ von Brian K. Vaughan (Story) und Fiona Staples (Bilder) ist eine seit 2012 laufende Serie, in deren zwei ersten Bände ich reingeschnuppert habe. Sie gibt ein Beispiel für die Verknüpfung zweier Genres ab: für die Science-Fantasy. Technologie und Magie sind gleichermaßen Kräfte, welche das erzählte und gezeigte Universum bestimmen. Oder anders formuliert: Magie ist hier eine Technik und Technik magisch.
Stein des Anstoßes in doppeltem Sinne und die Panels kommentierende Ich-Erzählerin ist Hazel. Mit ihrer Geburt setzt der Comic ein. Warum Hazel? Sie ist das Kind zweier Fahnenflüchtiger, wobei deren Desertion aus zwei feindlichen Kriegsparteien besonders delikat ist. Alana stammt vom Planeten Landfall, dessen Bewohner sich mit Adlerfittichen, Fledermausschwingen oder anderen Flügelpaaren in die Luft erheben können. Marco, der Vater des Kindes, wiederum stammt von der „Ranke“, einem Mond desselben Planeten. Wie alle Rankenbewohner trägt er Hörner und ist der Magie kundig – dort wo LandfallerInnen auf Technik setzen, greift er auf Zauberformeln zurück.
Augenscheinlich ist Krieg das seit jeher währende Verhältnis zwischen Landfall und der Ranke. Da Planet und Mond aber in einem Gravitationsgleichgewicht aufeinander angewiesen sind, um nicht aus ihrer Umlaufbahn zu geraten, wurde der Krieg mit Hazels Worten „outgesourct“. In einem Maß hat er sich auf die Galaxis ausgedehnt, dass sich ihm niemand entziehen kann und Partei ergreifen muss. Die kleine Familie wird von beiden Parteien verfolgt, die Eltern sollen exterminiert, ihr Sprössling in Gewahrsam genommen werden. Hazels Hybridität, welche ein Schritt zu Frieden und Aussöhnung sein könnte, wird nicht geduldet.
Worin liegt nun das Dilemma der Phantastik-Theorie im Umgang mit einem Comic wie „Saga“? Das Dilemma liegt darin, dass die Einbildungskraft in die Bilder eingeht und sie formt, die Bilder dadurch aber (fiktional betrachtet) materiell werden und das Spiel der Einbildungskraft arretieren. Es ist Literatur der Einbildungskraft, streicht aber ihr grundlegendes Definitionsmerkmal – eben dieses Spiel der Einbildungskraft – auf der fiktionalen Bildebene durch.
Anlauf 1
Klassische Definitionen der phantastischen Literatur führen auf den ersten Blick nicht weiter, versucht man, den phantastischen Comic zu bestimmen. Warum ist das so? Ein seit spätestens Tzvetan Todorov allgemein anerkanntes Merkmal der phantastischen Literatur ist eine Texten strukturell eingeschriebene Unschlüssigkeit darüber, ob die erzählten Ereignisse als reale vorgestellt werden oder aber auf eine Täuschung von Sinnen und Verstand zurückzuführen sind.
Ein Beispiel: Der Archivarius Lindhorst aus E.T.A. Hoffmanns „Der goldene Topf“ gilt seinen bürgerlichen Kollegen als schrulliger Orientalist. Seinem neuen Assistenten Anselmus allerdings zeigt sich eine andere Natur: er ist ein in Menschengestalt verwandelter Salamander aus dem Zauberreich Atlantis. Diese zwei Sichtweisen verwebt Hoffmann so ineinander, dass keiner von beiden der Vorzug gegeben werden kann.
Todorov nun positionierte die Phantastik als Gattung zwischen zwei Nachbargattungen.
Die erste, das Unheimliche genannt, löst ein zunächst übernatürlich erscheinendes Ereignis in einer realistische Erklärung auf. Die Umstände, unter denen die Morde in Poes „The Murders in the Rue Morgue“ geschehen sind, scheinen auf das Wirken übernatürlicher Kräfte hinzuweisen. Als natürlich, wenn auch ungewöhnlich, erweist sich der Tathergang jedoch mit der Entlarvung eines Orang-Utans als Täter.
Die zweite, das „Wunderbare“, erklärt das Unwirkliche zur (fiktional realisierten) neuen Wirklichkeit. Nehmen wir „Harry Potter“: die eigentümlichen Zufälle im Hause der Dursleys rund um ihren Neffen Harry erklären sich, als er die Einladung in die Zaubereischule Hogwarts erhält.
Die Phantastik ihrerseits bliebe hier unentschieden in der Schwebe, so als ob sich der Lehrerstab von Hogwarts als Trupp karnavalistischer Scharlatane entpuppt hätte und Harry irgendwie trotzdem der Schlangensprache „Parselmund“ mächtig wäre – oder bleibt das nur sein Wunschtraum?
All das erlaubt die sinnliche Undurchlässigkeit der Wortsprache, die nicht primär zeigt, sondern von uns gedeutet sein will. Dass die Leserschaft nicht wahrnimmt, sondern nur imaginiert, wovon erzählt wird, ist gewissermaßen eine Grundvoraussetzung dieser Definition des Phantastischen. Phantastische Literatur fordert das Bedeutungspotential der Sprache und die Deutungskompetenz der Leserschaft heraus.
In der jüngst erschienenen Einführung „Comics und Graphic Novels“ von Julia Abel und Christian Klein wird diese literaturtheoretisch wegweisende Definition Todorovs und anderer zwar erwähnt. Allerdings figuriert das Phantastische nur als ein an die phantastische Literatur angelehntes Comic-Genre neben anderen. Bei der Lektüre konnte ich feststellen, dass es vor allem Sciencefiction und Fantasy sind, die im Medium Comic nachhaltigen Niederschlag gefunden haben – eigentlich nicht sehr verwunderlich.
Nun lässt sich schwerlich abstreiten, dass auch Sciencefiction und Fantasy mit der menschlichen Einbildungskraft zu tun haben. Und zwar im wörtlichen Sinne: beide setzen ausgedachte Welten und Geschöpfe „ins Bild“. Diese abgebildeten Welten zeichnet aus, von frei erfundenen Gesetzmäßigkeiten bestimmt zu sein. Nur – und das ist der Stolperstein für die literarische Definition des Phantastischen angesichts des Mediums Comic – lassen weder Fantasy noch Sciencefiction einen Zweifel an der fiktionalen Wirklichkeit dieser Welten. Insofern finde ich dann auch ihre Affinität zum Comic plausibel: der erfundenen Welt wird visuell zu Realität verholfen; das Medium Comic verschafft den Produkten der Einbildungskraft eine Existenz als Abbild von Eingebildetem.
Die schon im reinen Schrifttext auf Klarheit der Beschreibung gerichtete Undurchsichtigkeit der Sprache wird durch das Bildmedium aufgehoben. Oder nicht? In Sciencefiction und Fantasy mag zwar die Wortsprache auf größtmögliche Transparenz für die fiktionale Welt hin poliert sein. Doch zeichnet Literatur eine Mehrbödigkeit aus: hinter dem Text der Worte steht ein Text der erzählten Welt, deren Figuren und Ereignisse. Zeigt uns ein Comic wie „Saga“ nicht explizit den deutungswürdigen Text einer fiktionalen Welt in Bildern, auf anderem Wege nur als die Wortsprache? Könnte nicht das Bild seine eigene Phantastik haben? Was kommt raus, wenn ich „Saga“ als einen Bilder-Text lese?
Anlauf 2
Wenn ich mich also dazu entschließe, einen Comic als Bilder-Text zu lesen, dann muss ich die Bilder eben auch auf ihre Bedeutung hin befragen. Aber wie ist so ein Bilder-Text gestrickt? Und wie weiter noch einer, der ein „phantastischer“ soll genannt werden können?
Bei einem Blick in das interdisziplinäre Handbuch der Phantastik erfahre ich von Victoria von Flemming, die früheste überlieferte Rede über Phantastik habe sich in der Tat auch auf Werke der bildenden Kunst bezogen. Platon schon habe sie in seinem Dialog „Sophistes“ als eine Transgression gesellschaftlicher und erkenntnistheoretischer Normen abgelehnt, da sie auf einer Kombination des Nicht-Kombinierbaren beruhe. In seiner Phantasmata-Lehre greift Aristoteles diese Kombination des Nicht-Kombinierbaren auf. Phantasmata, so nennt er mentale Repräsentationen unserer Wahrnehmungsdaten; was wir sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen wird als geistiges Abziehbild in unserer ganz persönlichen Enzyklopädie gespeichert. Diese Abziehbilder kombiniert der Verstand regelkonform zu Repräsentationen der Realität.
Aber, das große Aber, nicht immer: Traum, Rausch und Fieber wirbeln unser mentales Bilderarsenal durcheinander, sodass irreale Kombinationen somit Einbildungen inexistenter Wesenheiten zustande kommen.
Und hier finde ich auch die erste Ähnlichkeit zu „Saga“: wie die antike Mythologie Zentauren und Tritone in Dichtung und Bild kreiert, bevölkern vielfältige Hybride auf anthropomorpher Basis das Universum des Comics. Das Prinzip der hybriden Kombination von als unkombinierbar geltenden Organismen ist eigentlich sogar ein Grundzug wunderbarer Welten von Fantasy bis Sciencefiction.
Besonders einprägsam in „Saga“: die Freelance-Auftragsmörderin namens „Die Pirsch“; ihr barbusig-armloser Torso krabbelt auf acht menschenhändigen Spinnenbeinen einher. Für die Kunsttheorie sind diese Fälle von phantastischer Kreation offenbar wenig interessant. Sie orientieren sich meist an literarischen Vorlagen und bilden sozusagen Fiktionen ab. Sie können, schreibt von Flemming, als Allegorien oder allegorische Symbole menschlicher Eigenschaften, des Guten oder des Bösen in einen nicht-phantastischen Diskurs aufgelöst werden.
Doch unser phantastisches Interesse für „Saga“ setzt hier ein. Denn offenkundig können nicht nur Worte eine Unsicherheit im Realitätsbezug verschlüsseln; auch Bilder können in ihrer Abbildintention ungewiss sein. Für den Comic und in ihm hybride Gestalten aus Mensch und Ziege wie Hazels Vater Marco fragt sich also: Ist hier eine fiktionale Welt bloß abgebildet oder bedeutet sie etwas? Enthält sie Allegorien und Symbole für menschliche Tugenden und Laster, politische und gesellschaftliche Zustände oder moralische Herausforderungen?
Und hier, wo wir es mit der Einbildungskraft im Zusammenhang von Gesellschaft und Moral zu tun bekommen, hier kommt mir schier unausweichlich die Utopie in den Sinn.
Anlauf 3
Die Utopie ist eine aus der Einbildungskraft erzeugte Welt, deren Bezug zur Realität zwar allegorisch, aber stets auch ungewiss ist. Peter Kuon, ebenfalls im interdisziplinären Handbuch der Phantastik, erinnert mich daran, dass Utopie eine literarische Schöpfung von Thomas More aus dem Altgriechischen Worten „ou“ = „nicht“ und „topos“ = „Ort“ ist. Eine Utopie ist also ein Nicht-Ort. Die englische Aussprache von Mores Insel „Utopia“ macht die Utopie erst ab Ende des 19. Jahrhunderts zum Gegenbegriff der damals entstehenden Dystopie: die erste Silbe wird gleichlautend mit dem griechischen „eu“ = „gut“ ausgesprochen.
Ich erfahre weiterhin, dass die Utopie nicht notwendig auf phantastische Schilderungen angewiesen ist, sondern auch sehr reale Prognosen gesellschaftlicher Entwicklung entworfen hat. Dennoch gehört die Allegorie zum klassischen Instrumentarium der Utopien, sie entwerfen wunderbare Welten, deren Figuren erst gedeutet werden müssen, um verstanden zu sein.
Meine Vermutung an dieser Stelle ist die folgende: Ein Comic wie „Saga“ ist so ein Nicht-Ort. Was heißt das? Als Nicht-Ort versammelt „Saga“ Figuren aus der Abteilung der nicht-kombinierbaren Kombinationen im kulturellen Bildarchiv. Er wirbelt Abziehbilder durcheinander. Ist „Die Pirsch“ eine antike Referenz auf die zur Spinne verwandelte Weberin Arachne, so gehören die monitorköpfigen Mitglieder der Robot-Imperiums dem Motivkomplex „Cyborg“ an. Der utopische Nicht-Ort bringt diese Produkte der Einbildungskraft in eine narrative Bewegung, welche mich nach der Bedeutung der Kombinationen fragen lässt. Sollen uns diese Hybride etwas sagen oder müssen wir sie als natürliche Gegebenheiten der erzählten Welt hinnehmen?
Ein allegorisches Angebot macht „Saga“ mit dem ersten Satz zum ersten Bild der Geburt eines Kindes von zwei Konfliktparteien angehörigen Eltern. „So wird ein Gedanke zur Realität“, erzählt Hazel im Rückblick. Hazel das ist der Gedanke, welcher hier zur fiktionalen Realität durch Geburt wird. Ein Gedanke kann hier auch als Produkt der Einbildungskraft verstanden werden, das einen fiktionalen Körper erhält.
Der Comic spielt die Frage an, ob Hazel ein Symbol des kommenden Kriegsendes und des Friedens sein könnte. Die Rede ihres Vaters, der sie am liebsten „Hoffnung“ getauft hätte, steht gegen diejenige der Tochter. Die nie gezeigte und stets nur als Schriftstreifen die Bilder begleitende Erzählerin versichert wiederum, sie werde keine Kriegsheldin oder große Erlöserin sein. Ob die Hoffnung auf Friede aber auf eine Heldenfigur angewiesen ist oder in einer gewandelten Welt liegt, bleibt offen.
Der kombinatorisch gewandelte Körper Hazels könnte immerhin ein Omen dieser Welt sein. Die primären Kriegsparteien tragen als körperliche Wappen Hörner oder Flügel, sodass auch die in ihre Stellvertreterkriege hineingezogenen Alliierten unter dem Banner dieser Glieder firmieren. Hazel hat nun deshalb das Potenzial zum Friedenssymbol, weil sie phänotypisch beide Merkmale inkorporiert. Sie verknüpft die Abzeichen der Gegner in ihrem eigenen Körper, ermöglicht so eine mögliche neue Bedeutung: die Aussöhnung. Die Kombination des Unkombinierbaren betrifft hier also weniger den Abgleich der vielgestaltigen Wesen von „Saga“ mit dem Realitätsraster der Leserschaft. Vielmehr wird hier ein fiktionsinternes Tabu selbst zum Symbol: die Kombination von Flügeln mit Hörnern. Erst die Deutbarkeit von Hazels hybridem Erscheinungsbild im Kontext des u- bzw. dystopischen Tabubruchs macht aus dem (fiktionalen) Abbild ein Symbol.
Als Nicht-Ort, als Utopie spielt „Saga“ auch deren allegorisches Potenzial aus. Die doppelt nicht-kombinierbaren Kombinationen von Flügeln und Hörnern auf einem anthropomorphen Körper, von der Einbildungskraft hervorgebracht, können gedeutet und somit in ein Zeichen umgewandelt werden.
Der Buchstabenleser in mir ist zufrieden, denn er hat die Bilderfolge in einen Bilder-Text umgewandelt, der seiner gewohnten Leseerfahrung entspricht. Doch hier erscheint eine kleine Unsicherheit, die Allegorie im Wunderbaren selbst betreffend. Wenn das Wunderbare allegorisch aufgelöst werden kann, ist es dann überhaupt noch wunderbar?
Nach Lektüre der ersten beiden Bände dieser Serie vermute ich: zur Phantastik im Sinne der Todorov’schen Unsicherheit gehört „Saga“ wohl nicht. Dieser Comic gehört als Science-Fantasy eher zum Wunderbaren. Ich kann ihn als eine fiktional geschlossene Welt auffassen, die sich dennoch via Allegorie auf unsere aktuelle geopolitische Lage mit ihren multilateralen Konfliktlinien projizieren ließe.
Lassen sich den Kriegsparteien aus „Saga“ reale Akteure zuordnen? Stellt „Saga“ kritische Analogien zu unseren zeitgenössischen Kriegsverwicklungen her? Wo werden womöglich virulente Verletzungen der Menschenrechte gespiegelt? All diese Fragen könnten aufgeworfen werden. Doch da ich nur zwei der bislang sechs erschienen Bände von „Saga“ gelesen habe, stelle ich ihre Beantwortung den erfahreneren Comic-LeserInnen anheim. An dieser Stelle fasse ich sie für mich in einer einzigen zusammen: Abbild oder Sinnbild?
Florian Kniffka
Brian K. Vaughan (Autor) u. Fiona Staples (Zeichnerin): Saga, Bd. 1 u. 2. Erschienen bei CrossCult 2013.
Julia Abel u. Christian Klein (Hrsg.): Comics und Graphic Novels – Eine Einführung. Erschienen bei Metzler 2016.
Hans R. Brittnacher u. Markus May (Hrsg.): Phantastik – Ein interdisziplinäres Handbuch. Erschienen bei Metzler 2013.
Florian Kniffka ist Absolvent der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie der Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.