
Hans-Jürgen Döpp: Sexualität zwischen Tabu und Liberalisierung
„Hast du im Venusberg geweilt,
so bist nun ewig du verdammt“
Tannhäuser
Einleitung
Ohne Frage: Was die Sexualität betrifft, leben wir in der freiesten aller Zeiten! Die viktorianischen Tabus über erotische Darstellungen in Kunst, Theater und Literatur sind weitgehend überwunden, Einstellungen zu Geschlechterrollen, Homosexualität und Ehe haben sich gravierend verändert und werden öffentlich diskutiert. Pornographie zu konsumieren ist kein Zeichen mehr einer Persönlichkeitsstörung. Über Werbung, Fernsehen, Internet und Druckmedien findet eine Pornographisierung der gesamten Konsumsphäre statt. Der Umgang mit dem Thema Sexualität wird von einer scheinbar toleranten, souveränen Haltung bestimmt, und auch die Gesetzgebung ändert sich im Schlepptau dieser Mentalitätsschiebung. „Sexualität ohne Tabus“? Oder ist diese vorgebliche Tabulosigkeit – nichts als Ideologie, also falsches Bewusstsein?
Doch im freien Gelände der Sexualität sind Tretminen versteckt, von denen einige im Augenblick explodieren und heftige Diskussionen auslösen, die zum Teil an finstere viktorianische Zeiten erinnern. Zugleich wird diese vorgebliche „Freiheit“ durch die Re-Tabuierung einiger Themen in Schranken verwiesen.
Sexualität ist im Kern stets ein Naturgeschehen. Ein Überblick über die Geschichte der Verbote und Tabus zeigt, dass sie in ihrer jeweiligen Ausformung immer auch Kulturgeschehen ist.
Zum Begriff des Tabus
Tabus sind oft schwer zu erkennen, da sie auf dem beruhen, was als „selbstverständlich“ gilt und damit nicht hinterfragt wird. Sie haben die Kraft moralischer Grundsätze oder auch, wie beim universell verbreiteten Inzest-Verbot, von Naturgesetzen. Im Unterschied zum Verbot beruhen sie nicht auf rationaler Begründung, obgleich sie einem Verbot gleichkommen. Ihre Stärke verdanken sie gerade der Beziehung zu ihrem unbewussten Gegenpart. Wie Freud in „Totem und Tabu“ ausführt, ist die Grundlage des Tabus ein verbotenes Tun, zu dem eine starke Neigung im Unbewussten besteht. Insofern ist das Tabuverbot als Resultat einer Gefühlsambivalenz zu verstehen. Gerade auf dem Felde der Sexualität wird diese, wie wir im Folgenden sehen werden, auf oft paradoxe Weise erkennbar.
Tabus sind in unserer Gesellschaft allgegenwärtig: Vielleicht sind die Tabus über das Geld, die Macht und den Tod gegenwärtig noch größer als das sexuelle Tabu.
Doch sind Tabus keineswegs statisch: Im Wandel der Geschichte kann der Tabu-Diskurs sich ändern. Der nachfolgende historische Abriss will den Wandel des Tabus, das über der Sexualität verhängt war, für die zurückliegenden zwei Jahrtausende kurz skizzieren.
Mittelalter
Im 8. Jahrhundert empört sich der heilige Bonifatius darüber, dass die Engländer „den Ehestand gänzlich verschmähen“ und empfindet es als Schmach, dass sie „sich durchaus weigern, legitime Ehefrauen zu haben, und fortfahren, in Unzucht und Untreue zu leben, wie wiehernde Pferde und schreiende Esel“[1]. Zu Beginn des 12. Jahrhunderts, bald nach den Reformen Gregors VII, wandelte sich der Charakter des Mittelalters: Der Kirche gelang es, ihren Sittenkodex und die durch ihn verursachte Triebverdrängung durchzusetzen. Dabei schienen die frühen Christen durch die Betonung des Sündhaften dem Sexualtrieb erst Geltung zu verschaffen. Erotik war nur in Darstellungen der Hölle zulässig. Die Sexualtriebe wurden verleugnet, nichtsdestoweniger beunruhigten sie nach wie vor: Auch der Hl. Augustinus wird immer wieder von Versuchungen geplagt! Nur zu Befriedung der Notdurft und für den Zeugungsakt wurde Sexualität erlaubt; „Erotik“ und Transzendenz waren der religiösen Inbrunst vorbehalten. Damit vollzog schon das frühe Christentum jene auch heute wieder aktuelle „Naturalisierung“ des Sexualtriebes: seine Reduktion auf den Akt einer bloßen Trieb-Entlastung. Führte die Verdrängung des Sexuellen zu hysterischen und schizophrenen Ausfällen, wurden diese als „Besessenheit“ bezeichnet, die als Indiz dafür galt, dass der Teufel in diese Personen gefahren sei. „Das Christentum“, so wetterte Nietzsche, „gab dem Eros Gift zu trinken“.
Renaissance
Ein Wandel setzte mit der Renaissance ein. Beflügelt von wissenschaftlichem Geist und Entdeckungseifer traten irdische Gestalten, Menschen von Fleisch und Blut, nun an Stelle der himmelwärts gestreckten Heiligenfiguren. Mit dem Studium der Antike, dem Ideal jener Zeit, wandte man sich einer vor-christlichen Epoche zu. In dieser Blütezeit, die einherging mit der Entfaltung eines reichen bürgerlich-städtischen Lebens, entstanden in Italien zahlreiche Darstellungen von Liebesszenen, die den kirchlichen Gegnern der Freiheit in der Kunst beweisen konnten, dass in diesen Bildern nichts den Menschen Entwürdigendes liege.
Insgesamt wirkte in dem Geist der Renaissance ein mächtiger Drang nach Freiheit. Die Künstler interessierten sich für den Menschen und die Schönheit seines Körpers. In der Kunst Italiens brachte die Renaissance eine Blütezeit der Erotik und der erotischen Kunst.
Verbürgerlichung
Vom 16. Jahrhundert an nimmt mit fortschreitender Verbürgerlichung die Verdrängung des Sexuellen zu. Ausgenommen blieben die oberen und die unteren Gesellschaftsschichten: sie waren erst später der Verbürgerlichung und damit auch der Verdrängung ausgesetzt. Ein neuer Typus des modernen Menschen entsteht: „Der Körper wurde von einem Lustorgan zu einem Leistungsorgan umgeformt. So entwickelte das Bürgertum eine Leistungsmoral, die das lustvolle Erleben von Sexus und Eros unmöglich macht… Indem der beherrschte Mensch zum Modell wird, werden andere Persönlichkeitsstrukturen als abweichend zurückgewiesen“[2]. Das Affektleben wird zunehmend der Selbstkontrolle unterworfen, abweichendes Verhalten wird tabuiert.
Rokoko
In Frankreich zog mit dem Rokoko ein Raffinement in die Liebe ein, das nicht weniger auf Trieb- und Selbstbeherrschung gründete. Der Fortschritt des Zivilisationsprozesses ging einher mit einer Dämpfung der gewaltsamen Triebe. Es war insbesondere die „dunkle Seite“ der Sexualität, die der Tabuierung unterlag.
Die wesentlichen Impulse gingen dabei von Paris aus, vom Königshof und der hier versammelten Aristokratie. Das Rokoko war aber auch die Zeit der intriganten „Gefährlichen Liebschaften“ und der kalten Leidenschaften eines Marquis de Sade. Das Tabu der Gewaltsamkeit wurde in seinen Schriften durchbrochen. Insofern produzierten die poetischen Bilder des Rokoko auch einen schönen Schein, eben: Ideologie[3]. Jacques Solé warnt, dass die historische Bedeutung der fleischlichen Träume dieser Zeit nicht übertrieben werden sollte: „Die ästhetische Erotik des Ancien Régime stellte eine äußerst seltene Freiheit für eine Zivilisation mit kontrollierter Sexualität dar, ein Fest, das sich die immer rigider gefangenen Sinne herausnahmen. Die wunderbaren Paarungen der verschlungenen Liebenden leiten sich von den Träumen einer Epoche ab, die in Anzügen und hinter Vorhängen eingeschlossen war; je mehr sie den Körper verachtete und verbarg, umso mehr zelebrierte sie das Ideal seines sichtbaren Zaubers. So präsentiert die in den Museen versammelte Kunst den imaginären, nicht den wirklichen Anteil unserer Vergangenheit“[4]. „Herrschaft der Lust“: man sprach mehr davon, als dass sie gelebt wurde. Die Elite war „eher zerebral als sinnlich“. Die Vermittlung der libertinistischen Ideologie und der „natürlichen Religion“ stellte die Verbindung zur Philosophie der Aufklärung her.
Als die französische Bourgeoisie sich im 19. Jahrhundert unter dem Bürgerkönigtum konsolidierte und sich nur noch dem Geschäfte-Machen hingab, verebbte der Geist der Revolution. Gleichzeitig verdüsterte sich das bislang so heitere Bild der Sexualität: Ihr Bild fragmentierte, zerfiel quasi in Darstellungen ihrer Partialtriebe mit allen Ausdrucksformen der Perversion: Sadismus, Masochismus, Flagellation, Sodomie und Fetischismus – die ganze Palette der von Krafft-Ebing inventarisierten „Psychopathia Sexualis“ konnte nun zum Thema werden.
Je stärker der Mann zum sich selbst beherrschenden, seine Emotionen unterdrückenden Wesen sozialisiert wurde, desto dämonischer erschien ihm die Frau, die ihm um die Wende zum 20. Jahrhundert als bedrohlicher Vamp, als Sphinx und Domina gegenübertrat. Das Bedrohliche, das die Sexualität durch ihre Unterdrückung in ihm erzeugte, wurde nun auf die Frau projiziert.
England
Strenger noch als die katholische Kirche im Mittelalter verhielten sich die protestantischen Reformatoren. Die strenge Haltung gegenüber sexuellen Fragen zeigt sich in besonders extremer Form im Calvinismus und im Puritanismus. Jede denkbare Form von Vergnügen wurde verworfen und mit Schuldgefühlen belastet. Alles, was sich auf sexuelle Angelegenheiten bezog, wurde als „obszön“ bezeichnet, allenfalls durch eine verblümte Sprache verschleiert. In England schreckten die Puritaner nicht vor öffentlichen Demütigungen zurück; ausgiebig wurde vom Prangerpfahl Gebrauch gemacht. Private Gesellschaften zur Unterdrückung des Lasters wurden gegründet, deren Wirken das ganze 19. Jahrhundert in England bestimmte und die Viktorianische Ära charakterisierte. Ein besonderes Tabu lastete auf der Analität: Reinlichkeit und Sauberkeit bestimmten Denken und Leben; dieses Tabu hält sich bis heute in den vom Puritanismus geprägten Ländern.
Diese Total-Tabuierung führte zu destruktiven Gegenkräften und rief zugleich – als Wiederkehr des Verdrängten in entstellter Form – eine Besessenheit hervor: Noch die unschuldigsten Handlungen und Worte wurden erotisiert. Eros wurde verboten, nicht aber sein Gegenspieler Thanatos. Die Neigung zur Flagellation wurde zunehmend zur Obsession. Man wahrte den Schein ehrbarer Haltung – und lebte seine „Perversionen“ in geheimen Bordellen aus.
Beredtes Schweigen
Das Beschweigen der Sexualität wurde durch eine gegenläufige Bewegung konterkariert: Schon die kirchlichen Beichtbücher forderten den Gläubigen auf, „alles“ zu sagen. Ab dem 17. Jahrhundert wuchs, parallel zur Unterdrückung, die Zahl der Diskurse über Sexualität! Es entstanden moralische, medizinische, psychologische, juristische und pädagogische Diskurse, die das Bewusstsein einer ständigen Gefahr steigerten. Foucault stellte fest, dass „die modernen Gesellschaften sich nicht dadurch auszeichnen, dass sie den Sex ins Dunkel verbannen, sondern dass sie unablässig von ihm sprechen und ihn als das Geheimnis geltend machen“[5]. Ein Tabu also, das von einem beredten Schweigen umhüllt ist. Die Sexualität wird rhetorisch eingehegt und abgeschirmt, indem man sich, insbesondere im 19. Jahrhundert, mit ihren Verirrungen, Perversionen und Absonderlichkeiten beschäftigt. Im Abendland ist der Mensch, Foucault zufolge, ein Geständnistier geworden.
Die Beziehung zwischen Erotik und Moral ist absurd und widersprüchlich: Das Verbot scheint der Sexualität erst ihre Bedeutung zu verleihen! Wurde durch die permanente Rede die „Sexualität“ erst hervorgebracht? Van Ussel meint, dass der Begriff der „Sexualität“ im 19. Jahrhundert entstand, als „man die sexuellen Komponenten zahlreicher Verhaltensweisen zu einem Ganzen zusammenfasste“[6]. Das setze eine Voreingenommenheit gegenüber diesen Verhaltensweisen voraus, denn das Sexuelle sei im Grund nur ein Teilaspekt des Verhaltens. Außerdem sei der Begriff aus einer hypersexuellen Einstellung heraus entstanden, „denn es ist nicht sicher, ob der sexuelle Teilaspekt der wichtigste ist“. Darum empfiehlt er, im Umgang mit dem Wort äußerste Behutsamkeit walten zu lassen.
Die Besorgtheit um den Sex, die im 19. Jahrhundert sich ausbreitete, taucht heute mit verstärkter Gewalt wieder auf: in Gestalt der dunklen Themen „Gewalt und Sexualität“, „Missbrauch“ und dem Thema der „kindlichen Sexualität“.
20. Jahrhundert
Mit Beginn des 20. Jahrhundert setzte ein Prozess der zunehmenden Liberalisierung ein, die ihren ersten Höhepunkt in den 20er-Jahren erreichte. Eine Vielzahl erotischer Ausdrucksformen wurde möglich. Man hat den Eindruck, das programmatische Ziel der gerade sich entfaltenden Psychoanalyse – „Wo Es war, soll Ich werden“ – sei auch zum Ziel des erotischen Lebens und der Kunstgeworden: Triebe, die bislang ins Unbewusste verbannt waren, durften sich nun freier entfalten. Doch noch immer waren die konservativ orientierten staatlichen Behörden restriktiv, was sich in den 20er-Jahren in einer Vielzahl von Gerichtsprozessen um Homosexualität, Theater, Literatur und Kunst ausdrückte.
Diese Entwicklung zunehmender Freiheiten wurde durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten abrupt unterbrochen.
Heute: Integration der Sexualität
In den 60er Jahren dieses Jahrhunderts setzte ein grundsätzlicher Wandel ein, der viele bislang geltende Verbote und Tabus außer Kraft setzte. Gesetze zu Ehebruch und Scheidung, männlicher Homosexualität, Pornografie und Abtreibung wurden allmählich reformiert. Die Kinsey-Reporte unterstützten diesen Prozess durch ihre puritanisch-ernüchternde Aufklärung. Eine Sex-Welle rollte an, befördert durch die Pille, die Genuss ohne Reue versprach. Doch bereits 1963 wies schon Adorno darauf hin, dass „die Befreiung des Sexus in der gegenwärtigen Gesellschaft bloßer Schein sei“. Die rationale Gesellschaft, die auf Beherrschung der inneren und äußeren Natur beruhe und das diffuse, der Arbeitsmoral und dem herrschaftlichen Prinzip selber abträgliche Lustprinzip bändige, bedürfe nicht länger des patriarchalischen Gebotes von Enthaltsamkeit, Jungfräulichkeit, Keuschheit. Der Sexus werde von der Gesellschaft geschluckt, institutionalisiert und verwaltet[7].
Durch seine Integration hat sich auch der Charakter der Sexualität selbst geändert: So, als behielte das puritanische Sauberkeits-Tabu noch seine durchschlagende Kraft, wurde der Sexus quasi neutralisiert, „deodoriert“ und durch die Verpönung der Partialtriebe de-sexualisiert. Sind es doch gerade diese Partialtriebe, die dem Sexuellen den verlockenden Anschein des „Schmutzigen“ und „Unanständigen“ geben. Dies aber führt zur Verarmung der Genitalität, zum „sauberen Sex“. Die von den als pervers geächteten Partialtrieben ganz gereinigte Genitalität ist, Adorno zufolge, arm, stumpf, gleichsam zum Punkt zusammengeschrumpft. Der entgiftete Sexus werde damit zu einer Variante des Sports. Gebremst wurde die bundesdeutsche und weltweite Liberalisierungswelle durch AIDS, mit dem, insbesondere bei den Schwulen, die Angst vor Geschlechtskrankheiten und Tod zurückkehrte.
Erotik und Verbot
Interessant ist die Auswirkung dieses Liberalisierungsprozesses auf das Sexualverhalten der Menschen: In Deutschland durchgeführte Studien zeigten, dass die kontinuierliche Enttabuisierung der Sexualität und ihre Allgegenwart in Öffentlichkeit, Werbung, Fernsehen, Literatur und Presse dazu führte, dass den Menschen die Lust offensichtlich vergeht. Sind es die unerfüllten, oft verbotenen oder tabuierten sexuellen Wünsche und Bedürfnisse, die die Triebkraft stärken? Tabus als Vorbedingung der Lust?
Erotik, so fasst Georges Bataille zusammen, gründet auf dem Verbot. Wir würden keine erotische Aktivität kennen, „wenn es in uns nicht ein Verbot gäbe, das sich zutiefst der Freiheit unserer erotischen Aktivitäten widersetzt… Ich glaube, dass es keine Erotik ohne Schuldgefühle gibt, überschrittenes Schuldgefühl“[8]. In einer liberalen Gesellschaft unterliegt das alte sexuelle Tabu einer Erosion. Eine sexuell libertäre Gesellschaft führt zu einem Spannungsverlust. Volkmar Sigusch weist immer wieder darauf hin, dass „Sexualität heute nicht mehr die große Metapher des Rausches, des Höhepunkts, der Revolution, des Fortschrittes und des Glückes ist. Je unablässiger und aufdringlicher das Sexuelle öffentlich inszeniert und kommerzialisiert wurde, desto mehr verlor es an Spannkraft, desto banaler wurde es“[9]. Martin Dannecker bestätigt: „Inmitten der gigantischen sexuellen Veranstaltungen hat sich die Lust verflüchtigt. Es ist, als ob wirklich geworden wäre, wovon die Askese träumte. Wir bewegen uns in einem Meer von Sex, ohne die Empfindungen, die einmal als sexuelle Lust bezeichnet wurden, ohne Schaden für unsere Anständigkeit und ohne spürbaren Kampf gegen Anfechtungen“[10]. Im Unterschied zum neuen erkannte der christliche Asket noch die Macht und Verlockung des Sexuellen an. Die letzten Reste an Spontaneität und Leidenschaft werden ausgetrieben durch die aktuell diskutierte Ersetzung der Sexualmoral durch eine Interaktions- und Verhandlungsmoral. Jede Unberechenbarkeit, jedes Risiko soll durch diese Rationalisierung des Gefühlslebens ausgeschaltet werden. Das Unbekümmert-Triebhafte wird tabuiert. Die derart „befreite“ Sexualität wird um ihr Bestes gebracht: die Erotik.
Tabu „Gewalt gegen Frauen“
Die Tabus über das Verhältnis von Sexualität und Gewalt bzw. Macht werden im Augenblick durch eine zeitweise überschäumende und alle Maßstäbe verlierende #metoo-Debatte aufgebrochen. Gewalttätige Sexualität muss zweifellos ein Straftatbestand bleiben. Doch werden in hypersexueller Manier Gewaltsamkeit und Frauenverachtung noch in arglosen galanten Gesten gewittert. Die pure Anschuldigung reicht aus, um die Existenz eines Mannes zu zerstören; die Medien werden dabei zum Prangerpfahl. Die oft wenig differenzierenden Diskussionen ebnen selbst den Unterschied zwischen realer und ästhetischer Handlung ein, indem Kunstwerke haftbar gemacht werden und Petitionen in Umlauf gebracht werden mit der Forderung, Gemälde aus den Museen zu entfernen, da sie Ausdruck eines „männlichen Blickes“ seien. Bildungsbürger wussten noch um den Unterschied zwischen Realität und ästhetischem Schein; Kunst war ihnen noch eine Gegenwelt, ein Naturschutzpark freier Phantasien. Es hat den Anschein, als unterliege der Phallus grundsätzlich einem Generalverdacht. Die Erwartung einer „Neutralisierung“ des Blickes aber zeugt von Realitätsverleugnung: von der Leugnung der Tatsache, dass es eben zwei Geschlechter gibt.
Das missbrauchte Kind
An Hysterie grenzt die Diskussion um die kindliche Sexualität. „Das stärkste Tabu von allen jedoch ist im Augenblick jenes, dessen Stichwort „minderjährig“ lautet und das schon sich austobte, als Freud die infantile Sexualität entdeckte“[11]. Mit der Verteidigung einer „kindlichen Unschuld“ fällt man hinter die Erkenntnisse Freuds zurück, der den Kindern eine autoerotische, polymorph-perverse Sexualität attestierte, die er von der erwachsenen, primär genital ausgerichteten Sexualität unterschied. Was aber erklärt die ungeheure Affektivität der sog. Missbrauchs-Debatte, in der kaum mehr zwischen sexuellen und nicht-sexuellen Handlungen unterschieden wird? In der jede Nähe zum Kind Argwohn erregt? Der Blick aufs Kind wird heute verdächtig! Gunter Schmidt sieht die Hintergründe in einem Aufweichen des Inzest-Tabus durch einen Intimitätsschub in der Familie seit Ende der sechziger Jahre und eine erheblich liberalere Haltung der Eltern gegenüber sexuellen, körperlich-lustvollen Verhaltensweisen ihrer kleinen Kinder[12]. Das Panische in der Debatte verweist darauf, dass alte Tabugrenzen zusammenbrechen, wodurch die Inzestbedrohung in der Familie verstärkt wird und stärkere Abwehrleistungen erforderlich werden. „Die unschärferen innerfamiliären Grenzen führen offenbar dazu, dass in der Missbrauchsdebatte überall zusammengebrochene Grenzen gesehen werden, um sie dort, in der Debatte, wieder aufzurichten“[13]. Adorno sieht die tieferen Ursachen dieser Diskussion in einem Wandel des Sozialcharakters; in einer unbewussten Infantilisierung des erotischen Ideals [14]. Nun müssen die Menschen, wie es scheint, sich vor sich selber und ihren eigenen Phantasien schützen, indem sie nicht nur dem Thema „Inzest“, sondern in überschießender Reaktion dem Thema „Kind“ ein Tabu aufzuerlegen versuchen. Selbst künstlerische Darstellungen eines nackten Kindes scheinen heute die Abwehrleistung zu gefährden.
Was sexuelle Freiheit betrifft, ist die gegenwärtige Situation diffus und von Konfusion und Pluralität gezeichnet: alte Tabus weichen auf, neue entstehen. Tabus müssen dabei nicht immer irrational sein, sie können auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt garantieren und das Zusammenleben schützen, deshalb auch „vernünftig“ sein. Eine totale Enttabuisierung würde menschliches Zusammenleben zum Verschwinden bringen.
Hans-Jürgen Döpp, geb. 1940. Studium der Soziologie und der Pädagogik. Langjährige Tätigkeit als Lehrbeauftragter für psychosexuelle Sozialisation an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sammelt seit 50 Jahren auf dem Gebiet der erotischen Kunst. Arrangierte viele Ausstellungen im In- und Ausland. Maßgeblich verantwortlich für den Aufbau des Erotik-Museums in Berlin 1995 und des Venusberg Erotic Art Museums in Köln. Autor einer Vielzahl von Büchern zur erotischen Kunst. Siehe auch www.aspasia.de
[1] G.Rattray Taylor, Wandlungen der Sexualität, Düsseldorf-Köln 1957, S. 24
[2] van Ussel, Sexualunterdrückung, Reinbek 1970, S.39
[3] Jacques Solé, Liebe in der westlichen Kultur, Frankfurt/Berlin 1979, S.253
[4] Ibid., S.255
[5] M.Foucault, Sexualität und Wahrheit – Der Wille zum Wissen, Frankfurt 1977, S.49
[6] van Ussel, a.a.O., S.9
[7] Th. W. Adorno, Sexualtabus und Recht heute, in: Fritz Bauer u.s., Sexualität und Verbrechen, Ffm 1963, S. 300
[8] G.Bataille, Die Erotik, München 1994, S, 309
[9] V.Sigusch, Neosexualitäten, Frankfurt 2005, S.8
[10] Martin Dannecker, Das Drama der Sexualität, Frankfurt 1987, S.148
[11] Adorno, a.a.O., S.308
[12] G. Schmidt, Das Verschwinden der Sexualmoral, Hamburg 1996, S. 106 f.
[13] ibid., S.110
[14] Adorno, a.a.O., S.309