
Heiko Hesh Schramm: NT-One
(Aus: „Die große Plauderei“, Band 4 „Airstream“)
Das neue NoTaboo, kurz NT-One genannt, war ein echter Quantensprung. Es verfügte über spezielle, aus der Kybernetik stammende Cyber-Funktionen, die alles bisher dagewesene in den Schatten stellten: Für Außenstehende saß man, auf sein Smartphone-Display starrend, im Wartezimmer eines Urologen; tatsächlich aber flog man mit Star Wars Episode 30.0 durch den Raum, der bahnbrechenden Saga über den Vater von Yoda, Lucasonydias, welche davon erzählt, wie eigentlich wirklich alles tatsächlich einst begann …
Die Philosophie, welche die Entwickler des Gerätes zu Grunde gelegt hatten, folgte einem simplen Leitgedanken: Keine Grenzen, keine Tabus. Alles, was es in der Militärtechnik, oder zu horrenden Preisen für ausgewählte Kreise zum Teil schon lange gab, sollte auch allen normalsterblichen Bürgern zugänglich gemacht werden. Ursprünglich hatte das NT-One sogar über eine, wenn auch recht einfache Beam-Funktion verfügen sollen. (Vorerst nur zwischen zwei verschiedenen, bis zum nächsten Update nicht zu ändernden Destinationen hin und her, und das auch nur im Umkreis von 3 Kilometern innerhalb großer Metropolen, welche anstatt mit den veralteten Breitband-Glasfaserkabeln, mit der neuen Light-Trans-Technik von NASA-Medic ausgestattet waren.)
Ein Zwischenfall zum Ende der letzten Testreihe hatte diesen Ambitionen ein jähes Ende bereitet: Zwei Facebook-Software-Spezialisten einer geheimen Entwicklungsabteilung nahe Moskaus waren am Ausgangspunkt wie geplant verschwunden, am Bestimmungsort jedoch niemals aufgetaucht. Die Presse hatte sich darauf gestürzt, so wie sie es immer tat, der damalige Konzernchef war zurückgetreten. Einen knappen Monat darauf, hatte der Investigativ-Journalist Brad Wood von der New York Times eine anonyme Quelle aus der Apple-Konzernzentrale mit den Worten zitiert: “Die Beiden sind wohlauf und haben gesungen wie die Kanarienvögel.”
Drei Tage später wurden vier Leichen aus dem Hudson River gefischt, allesamt dermaßen zugerichtet, das eine Identifizierung nicht mehr möglich war. Die Tatsache, dass der besagte Manager, die beiden Facebook-Mitarbeiter sowie Mr. Wood spurlos verschwunden waren, gab Anlass zu den wildesten Spekulationen.
Eine weitere Woche später, an Halloween, berief der neue Facebook-Chef John D. Saltsee überraschend eine Pressekonferenz ein, in deren Verlauf er erklärte, man könne die Daten aller Bürger dieser Welt nur entsprechend sichern, wenn sie den Bürgern – ohne Wenn und Aber, wie er sich ausdrückte –, wieder selbst gehören würden. Mit allen Unannehmlichkeiten, die diese radikale Maßnahme eventuell mit sich bringen mochte. (Ohne näher darauf einzugehen, nannte er in diesem Zusammenhang u.a. die freie Einreise in die Vereinigten Staaten, den Zugang zu sozialen Medien, die staatliche Genehmigung zur Nutzung elektronischer Geräte aller Art, sowie den Abschluss von Miet- Arbeits- Kauf- bzw. Leasing- sowie Heiratsverträgen aller Art.) Der Bürger hätte ein Recht auf seine Daten, ohne Wenn und Aber (wie Saltsee an dieser Stelle erneut betonte), aber die Allgemeinheit hätte nun mal auch ein Anrecht darauf zu wissen, mit wem man es zu tun habe. All diese Probleme dürften nicht länger tabuisiert werden. Daher könne von nun an, so er es denn wölle, ein jeder Bürger seine ausdrückliche Zustimmung geben, dass FB die Daten im Interesse des Bürgers, sozusagen leihweise, in die eigene Obhut nehmen und diese fortan im Interesse aller, verantwortungsvoll verwalten könnte. Wie man dies zu bewerkstelligen bzw. zu gewährleisten gedenke, dazu werde er in seinen Ausführungen noch zu sprechen kommen. Zunächst gelte es, fuhr Saltsee fort, einige der dunkelsten Fälle von Datenmissbrauch der letzten zwanzig Jahre in Erinnerung zu rufen, wobei er auch noch einmal auf den FB Skandal von 2018 verwies in dessen Verlauf der – nur wenig später, im Sommer 2020 – bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz nahe des Pekinger Zentralflughafens Xi Jinping ums Leben gekommene Facebook-Chef Mark Zuckerberg zugeben musste, dass die Daten von Millionen von Usern abgegriffen, ausgewertet, und angeblich dazu verwendet worden waren, um Präsident Trump zur Wahl zu verhelfen. “Ja, ja”, hob er abwehrend seine manikürten, auffallend kleinen Hände: Natürlich sei das nie bewiesen worden. Nach Trumps glorreicher Wiederwahl hätte selbst er durchaus Verständnis dafür gehabt, wenn es den einen oder anderen Bürger nach Aufklärung, bzw. Offenlegung der Identität der Urheber dieser wilden Verschwörungstheorien von damals gedrängt habe. Aber Skandal wäre nun einmal Skandal; verlorenes Vertrauen ließe sich nicht einfach so mit dem Lasso wieder einfangen. Die atomare Vernichtung Syriens auf Befehl des französischen Präsidenten Macron, durchgeführt von einer Militärallianz Frankreich-Deutschland, ebenfalls im Jahre 2020, (die Deutschen hatten eine Aufklärungsdrohne beigesteuert, welche allerdings bereits über Tschechien abgestürzt war), hätte der Weltöffentlichkeit in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, dass die ungehemmte Freigabe geheimer Informationen jede Diplomatie zunichte machte und die Menschheit direkt in die Apokalypse führen werde. Saltsee erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass diese Zäsur, der erste Einsatz von Atomwaffen in diesem Jahrhundert, ihren Ursprung in einer WikiLeaks-story gehabt habe, welche eine vermeintliche Allianz der Türken, Russen und Chinesen – mit stillschweigendem Einverständnis der Amerikaner – zum ausdrücklichen geopolitischen Nachteil Europas nahelegte. Angeblich habe man damals beabsichtigt, den Krieg, wenn es sein müsse, noch Jahrzehnte eskalieren zu lassen. Millionen und Abermillionen an Kriegsflüchtlingen sollten den alten Kontinent förmlich überfluten und, wenn möglich, auf Dauer destabilisieren. Auf der anderen Seite, räumte Saltsee ein, hätte dieses einschneidende Ereignis immerhin den Krieg dort beendet. No Country – No War, sozusagen.
Auch die 40.000 Toten durch die Detonation einer sogenannten schmutzigen Bombe im Hauptbahnhof von Dresden, Germany, welche zu einem neuen Atomvertrag zwischen den USA, China, Russland und Nordkorea im gemeinsamen Verbund gegen den Iran geführt sowie die Ausrufung einer neuen DDR im Osten Deutschlands, (diesmal durch rechtsnationale Kräfte) im letzten Moment verhindert habe, hätte die Notwendigkeit, endlich bahnbrechende Schritte hin zu einer vollkommen neuen Art Sicherheitsstruktur unserer global vernetzten Welt zu unternehmen, noch einmal klar unterstrichen. Facebook dürfe in diesen Zeiten nicht abseits stehen. Man hätte lange über Optionen nachgedacht, betonte Saltsee und gab innerlich alles, um zumindest ein bisschen theatralisch rüberzukommen: In der langen Firmengeschichte habe es des Öfteren Überlegungen gegeben, den Dienst kostenpflichtig zu machen. Spätestens im Sommer 2018 hätte man dies jedoch definitiv ausgeschlossen. Versuche, den Zugang für bestimmte Bevölkerungsgruppen oder vereinzelt verdächtige Individuen zu begrenzen, bzw. Zeitweilig zu sanktionieren, hätten – in Bezug auf die Qualität der Beiträge und der Art und Weise der geführten Debatten – zwar durchaus positive Auswirkungen gezeitigt, seien aber letztendlich ebenso verworfen worden. Jede Maßnahme, die die Leute ausschloss, schloss einen umgekehrt auch von ihnen aus, sinnierte Saltsee lautlos. In einer globalisierten Welt eine nahezu beängstigende Vorstellung.
“Die Welt ist eine Familie, und Facebook das Haus, in dem sie wohnt”, rief der Konzernchef stattdessen aus, sich heimlich heftig in den Oberschenkel kneifend, in der Hoffnung auf ein wenig Schmerz im Verbund mit einem auf diesem Wege vielleicht zu generierendes Tränchen, welches als Zeichen von Rührung gewertet werden könnte: “Ein Mitglied der Familie aus dem Hause zu jagen wie einen räudigen Hund, ist für uns keine Option. Es ist unchristlich, und nicht zu akzeptieren!”
Chairman Saltsee, der in der US-amerikanischen Öffentlichkeit nach seinen Initialen kurz und knapp SS genannt wurde – manch dunkles Kapitel der Menschheitsgeschichte war schlicht und einfach zu lange her – legte an dieser Stelle eine Pause ein. Manche der Anwesenden sprachen später davon, dass in diesem Moment der Geist von Steve Jobs durch den Raum geweht habe. Margie McAllister, die milliardenschwere Erbin eines Käseproduzenten aus Wisconsin und Facebook-aktionärin der ersten Stunde, schwärmte, sie hätte eine Vision gehabt, welche sie immer noch zu Tränen rühre: Mr. Jobs, im blendend weißen T-Shirt, wie er auf einen – im hellblauen Anzug gewandeten – Mr. Saltsee zugeht und ihn so fest umarmt, dass ihrer beider Körper förmlich miteinander zu verschmelzen scheinen.
“Was wäre gewesen, wenn es bereits damals …”, fuhr der Facebook-CEO fort,”eine einzige Firma gegeben hätte, welche die Daten der Bürger, natürlich mit deren ausdrücklicher Zustimmung …”, – an dieser Stelle legte er abermals eine Kunstpause ein, hüstelte, und spuckte einen feinen Nebel Speichel in Richtung der ersten Reihe seiner Aktionäre: “Was wäre, wenn nicht nur irgendwelche Daten, sondern das gesamte Internet ausschließlich Ihnen, Ihnen allen gehören würde? Und es eine einzige, sagen wir, Einrichtung gäbe, welche einzig und allein Ihren Interessen verpflichtet ist? Wie sollte jemand von draußen in der Lage sein, Ihre persönlichen Daten zu stehlen, wenn es gar kein “Draußen” mehr gäbe? Weil niemand, ich betone, niemand (!) Zugang zu sensiblen Daten hätte, sofern wir von unseren Nutzern autorisiert wären, dies im Namen aller zu verhindern. Natürlich wäre dies nicht so einfach wie es sich anhöre. Es erfordere eine, wie solle er es sagen, Ganzheitlichkeit. Alle Anwesenden könnten sich doch sicherlich noch an Mr. Snowden, Sir Matthew Alistair Brant, Chang Zhang, und Dmitry Nosenko erinnern”, räusperte er sich und blinzelte in Richtung eines Glaskubus neben ihm, auf welchem das neue NT-One, von dankbar durch den Raum tänzelnden Spotlights, seine in edlem metallic blue gehaltenen Flanken gekitzelt bekam.
“Wie ich bereits sagte”, hob er an, “Keine Denkverbote. In der heutigen Zeit darf es keine Tabus im Sinne einer falsch verstandenen Demokratisierung oder sonstiger liberaler Fantastereien mehr geben, die uns allen nur im Wege stehen!”
Während des letzten Satzes hatte seine Stimme begonnen, sich gefährlich zu überschlagen. Immer wenn er versuchte, Leidenschaft oder zumindest eine gewisse persönlichen Anteilnahme vorzutäuschen, hörte er sich an wie ein kleines Mädchen, das Lachgas inhaliert hatte. Als er erneut anhob, zwang er sich, sein Timbre so weit wie möglich zu senken. Es stand schlicht und einfach zu viel auf dem Spiel:
“Meine Damen und Herren Cisgender!”, raunte er, “Verehrte Transgender, für ihren Weg zu sich selbst bewunderte Shemales und Transsexuelle! Wertes und über die Maßen geschätztes, hier und da vereinzelt vorkommendes “Es”! Ich bin stolz darauf, Ihnen hiermit verkünden zu dürfen, dass wir mit dem heutigen Tag um 11:55 Uhr eine Fusion mit Alphabet eingehen werden! Zum einen, um die Kosten unserer beiden traditionsreichen Unternehmen im Sinne unserer geschätzten Aktionäre, also Ihnen allen wie sie hier vor mir sitzen, zu minimieren; vor allem aber, um den Google-, Facebook– und Instagram-Nutzern und Nutzerinnen, also den Cisgendern, Transgendern, den für ihren Weg zu sich selbst bewunderten Shemales und Trans-sexuellen; sowie dem vereinzelt hie und da vorkommenden “ES” ein Produkt anzubieten, das es erstmalig in der Geschichte des Internets erlaubt, alles unter einem Dach vorzufinden. Denn nur so wird der Missbrauch der Daten der Bürger dieser Welt, auf lange Sicht wirkungsvoll zu verhindern sein!”
“Well”, fügte Saltsee hinzu, urplötzlich den breiten Singsang eines texanischen Provinzsheriffs nachahmend: “Wir haben heute viel darüber gesprochen, dass es keine Denkverbote, keine ideologischen und sonstige Tabus mehr geben darf, und so möchte ich an dieser Stelle darauf verweisen, dass die Sache natürlich auch noch eine andere Seite hat: Jegliche kriminelle Betätigung, von wem auch immer, wird ab heute für immer und ewig tabu sein! Ich hoffe, Sie werden mir an dieser Stelle eine gewisse Flapsigkeit nachsehen”, giggerte Saltsee wie ein Komiker während einer Show im Flamingo-Hotel in Las Vegas, zu Ehren der Wahl von John F. Kennedy im Jahre 1960: “Es ist ganz einfach, oder, wie die Deutschen zu sagen pflegen: “Wir kennen unsere Pappenheimer!”
“Vom heutigen Tage an”, fuhr Saltsee fort, “wird es den Google Browser in Facebook geben. Nie wieder werden sie sich gezwungen sehen, unser Portal verlassen zu müssen, wenn sie es nicht möchten. Und das ist noch nicht alles. Mit der geballten Kraft unser beider Unternehmen haben wir uns entschlossen, unsere globale Fusion auch in Bezug auf Hard- und Software auszudehnen. In den letzten Wochen und Monaten haben wir Apple, Samsung und Motorola aufgekauft! Aktuell stehen wir in erfolgversprechenden Verhandlungen mit unseren chinesischen und russischen Freunden; unsere Vision für den, wie wir es nennen, Weltbürger, auch in diesem Bereich Wirklichkeit werden zu lassen:
Ein weltweites Betriebssystem: fb_one.planet_you
Ein Smartphone für alle: das NT-One.
Und …, in aller Demut und gebührender Bescheidenheit: uns. Das gute alte, wieder einmal vollkommen neue Facebook. Ein einziger Anbieter, 8 Milliarden gleichberechtigte Partner! Ich spreche hier von Ihnen, Ihnen allen; Ihnen, unseren Kunden. Die absolute Sicherheit für jedes einzelne Menschenwesen, mit der geballten Kraft der Errungenschaften aller bisher am Markt oft so unnötig konkurrierender Unternehmen!
Abschließend möchte ich bekanntgeben, dass das neue NT-One am 22. Dezember, rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft, in den weltweiten Handel kommen wird. Was auch immer für ein Gerät sie bisher genutzt haben, jeder Elektronikhändler weltweit, wird es, – und das vollkommen unabhängig vom ehemaligen Anschaffungspreis –, für rund 499,- US-Dollar in Zahlung nehmen. Das bedeutet, für Sie; Sie, die erste Generation einer neuen Zeitrechnung, welche Sie erst mit ermöglicht haben, gibt es das neue NT-One für sage und schreibe: einen einzigen US-Dollar!”
Heiko HESH Schramm, Jahrgang ’71, Stahlwerker, Altenpfleger und Panzerfahrer im Zweiten Weltkrieg … oder war das Charles Willeford?Am Bass für Chris Whitley on tour durch Amerika, Paris war noch aufregender. Seit Whitleys Tod schreibt er Songs, bringt seine Alben unter dem Namen Blenderman raus und scheißt drauf, für 50 Euro in Hamburg spielen zu “dürfen”.
Privat hat er eine Schwäche für gebratenes Fleisch; ist mit der Frau die er liebt, auch befreundet, und steht auf dem Standpunkt, dass Israel seine Angelegenheiten ganz gut allein regeln kann.
In seiner Preisklasse ist er der bestangezogene Mann des Universums.
Und, wie jeder andere Mensch in Westeuropa auch, schreibt er an einem Roman.
Mehr zu HESH’ Biografie auf Wikipedia.
http://www.heikoheshschramm.com/
https://www.youtube.com/channel/UCVITVxCSLM5kv6Qxbhugi2Q
new video: https://www.youtube.com/watch?v=BwWIdqE7MsQ