Geschrieben am 2. November 2011 von für Litmag, Porträts / Interviews

Ilse Aichinger wird 90

Das Suchen ist unauffindbar …

Zum 90. Geburtstag von Ilse Aichinger – Glückwünsche! Von Senta Wagner.

Wenige Tage vor ihrem 90. Geburtstag am 1. November 2011 begegne ich Ilse Aichinger auf einer zugigen, schon abenddunklen Straße mitten in Wien. Welch ein Glück! Zu einer Tageszeit, wo die berühmte Dichterin vor ein paar Jahren vielleicht noch im Kino gesessen hätte, um das eigene Verschwinden zu zelebrieren. Schon vor fünfzehn Jahren hat die österreichische Autorin in einem Interview den Wunsch geäußert, die Zukunft möge nicht mehr zu lange dauern. Hat sie aber doch getan.

So kommt es, dass in diesen Tagen Person und Werk bei österreichweiten Veranstaltungen und im Feuilleton gewürdigt werden.

Ilse Aichinger ist natürlich nicht auf der Straße herumspaziert. Meine Begegnung ist also keine echte, eher nur so eine der gefühlten Art und absolut zufällig. Sie ist eine des dankenswerten Zuhörens. Der Erzähler, nehmen wir an, wäre ein Kinogänger wie die Aichinger, der ihrem bewegten Leben und ihren Texten einiges abgelauscht hätte. Auf der Straße stehe ich und fange ein paar Erzählschnipsel auf, der Rest ist bekannt aus anderen Quellen: Die Zwillingsschwester konnte rechtzeitig emigrieren, andere Familienmitglieder nicht, sie kamen in Vernichtungslagern ums Leben, darunter die geliebte Großmutter. Ihre Deportation aus Wien 1942 bilde im Prinzip das Zentrum von Aichingers Schreiben. Natürlich die Stadt, auch die spiele eine wichtige Rolle. Bereits 1948 erscheint ihr erster und einziger Roman „Die größere Hoffnung“, in der sie das Schicksal von (halb-)jüdischen Kindern unter der wachsenden Bedrohung des Nationalsozialismus in deren ernsthafte, ungestüme Kinderrede übersetzt, erzählerisch changierend zwischen Traumbildern und der Realität.

Gruppe 47

Mit Ilse Aichinger gewinnt eine ganze Autorengeneration der Nachkriegszeit in Österreich an Profil. Heute gilt sie als eine ihrer bedeutendsten Stimmen. Ebenso wie Ingeborg Bachmann macht sich die Schriftstellerin auch mit Hörspielen einen Namen („Knöpfe“, 1953). Das Veröffentlichen beim S. Fischer Verlag und deutschen Rundfunkanstalten sowie ihre Mitgliedschaft bei der Gruppe 47 tragen zu ihrem raschen Bekanntwerden und einer Bereicherung der Literatur nach 1945 bei.

Es folgt 1952 der Preis der Gruppe 47 für „Spiegelgeschichte“, die Heirat mit Günter Eich, ein Leben an diesen und jenen Orten, mal stürmisch, mal still. Und die Zukunft ist immer noch nicht da. Die Zeit dehnt sich für unzählige Literaturpreise, den letzten bekam sie 2002, für ein schmales, aber intensives Werk aus Gedichten, Hörspielen, Erzählungen, Szenen und Dialogen, in denen sie ich dreht und wendet in immer verknappterem Ton um die Pole „Sprache und Existenz“. Seit 1988 lebt Ilse Aichinger wieder in Wien. Ihr Werk ist vollständig lieferbar – es darf von Herzen gelesen werden.

Senta Wagner

Textauszug zitiert aus Aichinger (2004):
Da legte der Wolf die Pfote auf das Fensterbrett. Als die Geißlein sahen, dass sie weiß war, glaubten sie, es wäre alles wahr, was er sagte, und machten die Türe auf. Wer aber hereinkam, war der Wolf! Die Geißlein erschraken und wollten sich verstecken.
Jacob und Wilhelm Grimm

Ich bin der Müller. Ich dachte wohl, der Wolf will einen betrügen. Aber ich dachte auch, der Wolf tut mir Leid. Was tut ein Müller, wenn ihm der Wolf Leid tut? Er macht ihm weiße Pfoten. Weniger kann er nicht.
Ich bin das zweite Geißlein, ich bin unwichtig. Auf eins kommt zwei und auf zwei kommt drei, das weiß man. Ich lachte, als der Wolf kam. Ich sprang gleich ins Bett, da war ich leicht zu finden. Auf eins kann auch drei kommen, dachte ich. Jetzt erfahren sie es.
Ilse Aichinger

Textauszug aus einem Gespräch mit Heinz F. Schafroth 1972 aus Aichinger (2011):
Heute wird allgemein behauptet, die Lage der deutschen Literatur unmittelbar nach dem Krieg sei eine besondere gewesen. Würden Sie das im Rückblick, Sie sind jetzt fünfundzwanzig Jahre „dabei“, auch so sehen?

Ich finde es eigentlich nicht, ich meine, jede Lage ist eine besondere Lage, wenn es überhaupt zu einer Lage kommt, so ist sie besonders, man könnte geradeso gut die heutige als eine besondere Lage bezeichnen. Es war eine andere Lage.

Ausführliche und aktuelle Presseinformation zu Werk und Person beim S. Fischer Verlag finden Sie hier. Foto: Stefan Moses.

Bei der Edition Korrespondenzen ist jetzt erschienen ein Band mit Interviews aus fünfzig Jahren und die weiteren aufgeführten Bände:
Simone Fässler (Hg.): Ilse Aichinger. Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952–2005. Wien: Edition Korrespondenzen 2011. 240 Seiten (mit CD). 23,00 Euro.
Ilse Aichinger (2006): Subtexte. 72 Seiten. 16,00 Euro.
Ilse Aichinger/Brüder Grimm (2004): Der Wolf und die sieben jungen Geißlein. 28 Seiten. 9,00 Euro.
Ilse Aichinger (2001): Kurzschlüsse. 96 Seiten. 18,50 Euro/CD Kurzschlüsse. Gelesen von Ilse Aichinger. 18,50 Euro.

Ilse Aichingers erstes Hörspiel „Knöpfe“ (1953):
Ilse Aichinger: Knöpfe. Hörspiel Literatur. Basel: Christoph Merian Verlag 2011. 1 CD, 60 Minuten. 12,90 Euro

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