Geschrieben am 13. April 2011 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Klassiker-Check: Muammar al-Gaddafis „Das Grüne Buch“

Gaddafis „Grünes Buch“

So populär wie Maos Rote Fibel war Gaddafis „Grünes Buch“ zwar nie. Aber der Wüstenrebell aus Sirte (dort wurde er 1942 geboren) hatte sich mit seiner „Dritten Universaltheorie“ einen gewissen Nimbus als Staatsmann geschaffen, der sich zu Höherem berufen fühlte und als Nasser-Nachfolger an die Spitze der panarabischen Bewegung setzen wollte. „Das Grüne Buch“ gehörte als Zwangslektüre in jeden libyschen Haushalt und jede Volksschulklasse. Aber wurde es auch gelesen? Und was steht eigentlich drin? Von Peter Münder

Als die mit malerischen Kaftans ausstaffierten afrikanischen Exzellenzen, all die Diplomaten und Delegierten der OAS, die direkt vor mir in Muammar al-Gaddafis legendärem Wüstenzelt in Sirte hockten, langsam einnickten, döste auch ich kurz ein. Denn die Stimme des Operetten-Führers hatte uns schon seit einer halben Stunde eingelullt, und es war absehbar, dass der Marathonredner, der neben dem Achtstunden-Orator Fidel Castro das extremste rhetorische Durchhaltevermögen besaß, die Vierstundenmarke locker knacken würde. In dem riesigen Zelt gab es bombastische Neonröhren, ein Podium mit Mikrofonen, auf dem Gaddafi im wehenden Gewand stand, davor waren schwer bewaffnete Bodyguards und Geheimpolizisten postiert sowie zwei Kameras vom russischen TV und vom NDR – aber es gab keinen einzigen Dolmetscher. Die einzigen Versatzstücke, die halbwegs verständlich waren, lauteten Dschihad, Lockerbie und ein Terminus, der so ähnlich klang wie „samma hier“.

Vorn am Rednerpult, ca. dreißig Meter von uns Zuhörern entfernt, stand Gaddafi im braunen Umhang, wedelte gelegentlich mit den Armen und lamentierte permanent in einem furchtbar nölenden, ermüdenden Tonfall, wobei er immer wieder ein „samma hier“ unterbrachte.

Samma hier

Hä? Ja, natürlich „samma hier“! Erst nach genauerem Hinhören fiel der Groschen bei mir, und als ich mich erleuchtet umsah, um die Botschaft mit dem italienischen Reporter aus Mailand zu teilen – es war kein Bajuwaren-Jargon für „hier sind wir“, sondern sollte „Jamahiriya“ (Zeitalter der Massen) heißen –, dröhnte plötzlich aus der linken Ecke ein vierzigköpfiger Jungmänner -Chor von Claqueuren unisono und fortissimo „Jamahiriya“!! Eine Art Blockwart, der als Dirigent fungierte, gab den Einsatz und dann brüllte der Chor los – ähnlich wie es die HSV-Fans in der Nordkurve praktizieren, wenn sie „Wer wird deutscher Meister?!“ rufen und dann „Ha Ha Ha Esvau“ grölen. Die Schreihälse wedelten dabei aufgeregt mit der Grünen Fibel, brüllten immer lauter – und dann schreckten alle die Zuhörer vor mir hoch, die bereits selig entschlummert waren. Gaddafi tolerierte das kakofone Kurkonzert zwei Minuten lang, haute dann kurz und knackig gegen das Mikrofon und brachte die Claqueure mit einer kurzen, abrupten Handbewegung energisch zum Schweigen. Dann schwadronierte er weiter drauflos, bis die meisten Zuhörer wieder weggenickt waren. Darauf begann das Spiel wieder von vorn: Gaddafis einlullendes Lamento, „Samma hier“- Rufe aus der Nordkurve, Wedeln mit den Grünen Fibeln – und das geschlagene viereinhalb Stunden lang. Seitdem assoziiere ich unweigerlich „Hallo Wach!“ mit der Grünen Fibel. So sollte es ja eigentlich auch sein: Mit dem Buch in der Hand Aufklärung verbreiten im ganzen Land, die Leute aus ihrem dogmatischen Dornröschenschlaf erwecken und dann die Barrikaden erstürmen.

Das alles hatte sich 1998 abgespielt, als ich in Libyen in „geheimer Mission“ für eine Reportage über Gaddafis gigantisches GMMR-Projekt (Bewässerungsprojekt „Great Man Made River“) unterwegs war. Wollte der Wüsten-Diktator tatsächlich nur mit diesem über 2000 Kilometer langen Rohrsystem Wasser aus unterirdischen Reservoirs vom Süden an die nördlichen Städte leiten und für blühende Landschaften mit Dattelpalmen und Olivenhainen sorgen? Oder ging es um ein geheimes Militärprojekt, weil die unter der Erde verlegten Rohre mit über vier Metern Durchmesser ideal für den Transport von Raketenwerfen, Panzern usw. waren? Hatte Gaddafi nicht auch ein unterirdisches Giftgaswerk in einem Geheimbunker bauen lassen? Jedenfalls stellte sich damals nach zweiwöchiger Recherche, nach Gesprächen mit deutschen Projektleitern und Bewässerungsexperten heraus, dass der größenwahnsinnige Staatschef sich mit dem Bewässerungsprojekt wohl nur selbst ein Denkmal bauen wollte.

Viele Fachleute hielten das Vorhaben für völlig unsinnig: Das Grundwasser würde abgesenkt, die Rohre würden bald porös werden, der Druckabfall müsste durch überforderte Pumpen kompensiert werden und alles wäre mit simplen Entsalzungsanlagen am Mittelmeer überhaupt viel einfacher in den Griff zu bekommen. Die wären in diversen Golfstaaten zwar längst erprobt – aber Gaddafi wollte beweisen, dass er als großer Visionär und Steuermann immer das Wohl seiner darbenden Untertanen im Blick hätte, für die er seine Öl-Milliarden in bombastische, einmalige Projekte investiere (vgl. meinen Bericht „Das Geheimnis des Wüstentunnels“/Spiegel spezial 11, 1998).

„Das Grüne Buch“ war bei all diesen Recherchen und Diskussionen – vor allem bei den täglichen Querelen mit libyschen Behördenvertretern – zwar immer irgendwo als dekoratives Beiwerk im Hintergrund wahrnehmbar gewesen. Aber nie konnte man einen Libyer bei dessen Lektüre entdecken. Wagte man es, Lehrer, Händler oder Schüler zu befragen, welche unermesslichen beflügelnden Erkenntnisse sie aus der Fibel gewonnen hätten, wurde man meistens nur kurz angeblafft: „Don’t ask such stupid questions!“

Was steht im „Grünen Buch“?

Während Maos Maxime „Dem Volke dienen“ auch in der Roten Fibel in vielen Abschnitten und Variationen thematisiert wird, will sich Gaddafi offenbar als afrikanischer Systemtheoretiker profilieren. Als er den ersten Teil seiner „Universaltheorie“ 1975 veröffentlichte, hatte er sich bereits einen Ruf als putschender Despoten-Beseitiger erworben, denn mit seinem „Bund freier Offiziere“ hatte er König Idris im September 1969 ins Exil nach Kairo verjagt. Zweifellos wollte Gaddafi auch in Nassers Fußstapfen treten, die imperialistischen Großmächte aus Afrika verjagen oder ihren Einfluss verringern. Aber war hinter den wolkigen Befreiungs- und Enteignungsformeln mehr verborgen als diffuse Sozialismus-Slogans?

Vom „dritten Weg“ eines Tito kann jedenfalls keine Rede sein, wenn es gleich in den ersten Sätzen über die „Lösung des Demokratieproblems“ heißt: „Ein politischer Kampf, dessen Ergebnis der Sieg eines Kandidaten mit 51 % Stimmenanteil ist, führt zu einem als Demokratie bemäntelten diktatorischen Regierungskörper, da 49 % der Wählerschaft von einem Herrschaftsinstrument regiert werden, für das sie nicht gestimmt haben, sondern das ihnen auferlegt worden ist.“ Im parlamentarischen System sind Mehrheiten laut Gaddafi einfach nicht akzeptabel: „Unter dem Deckmantel einer vorgetäuschten Demokratie“ werde so nur eine Diktatur eingeführt – „Die tyrannischsten Diktaturen, die die Welt gekannt hat, existieren im Schatten der Parlamente“ lautet sein Fazit.

Da es also in einem solchen System keine echte demokratische Repräsentation des Volkes gebe, müssten Volkskongresse und Volkskomitees den Weg zur direkten Demokratie ermöglichen, erklärt Gaddafi. Und „Das Grüne Buch“ mache die Menschen mit der „glücklichen Entdeckung“ dieses Weges zur direkten Demokratie vertraut. Ein in einem hübschen Grün gehaltenes Organigramm soll die Zusammensetzung dieser neuen Volksmacht veranschaulichen: Gewerkschaften, Berufsverbände und andere Vereinigungen entsenden ihre Vertreter in einen Basisvolkskongress, der dann einen Regionalvolkskongress und dieser einen Generalvolkskongress bestimmt. So würde das Volk selbst Regierungsinstrument sein und der diktatorische Schwindel pseudodemokratischer Institutionen vermieden und ausgemerzt werden, behauptet Gaddafi im „Grünen Buch“.

Verschwurbelte Erkenntnisse

Dass all diese Instanzen dann doch nur nach der Pfeife des großen Steuermanns tanzen, der sich selbst am liebsten in einem wahnwitzigen Akt größenwahnsinnigen Personenkults in allen größeren libyschen Städten auf riesigen Plakaten mit „Grünem Buch“ in der Hand posiert, ist in der Fibel allerdings nicht mal in einer unscheinbaren Guttenbergschen Fußnote vermerkt. Ganz abgesehen davon, dass der Meister der Vereinfachung offenbar noch nie etwas von einer mit demokratischem Stimmrecht möglichen Abwahl gehört hat.

Verschwurbelt und diffus hangelt sich der große Führer durch alle möglichen Evolutionsfragen, ökonomische Aspekte sowie Emanzipationsdiskussionen und äußerst sich sogar zur Pressefreiheit und zu Medienfragen („Die demokratische Presse muss von Volkskomitees herausgegeben werden“).

Obwohl man in Libyen (damals jedenfalls) viele berufstätige, emanzipierte Frauen sah, sogar waffentragende wie etwa Gaddafis weibliche Leibgarde als alltäglich akzeptiert wurden und die meisten Frauen weder Kopftuch noch Schleier trugen, propagiert Gaddafi in seiner Fibel eine krypto-feministische Heimchen-am-Herd-Philosophie, die er mit unsäglichen verschwurbelten Pseudo-Erkenntnissen und Kalenderweisheiten – aus denen sich seine „dritte Universaltheorie“ ja zusammensetzt – untermauert. Immerhin aber, meint Gaddafi, seien Männer und Frauen menschliche Wesen und daher sei die Frau eigentlich ja sogar gleichberechtigt … Aber „warum wurden nicht nur Männer geschaffen“?

„Die dritte Universaltheorie“ sollte wohl diverse Ungereimtheiten der ersten beiden Universaltheorien – nämlich Kapitalismus und Sozialismus – beseitigen. Doch die große Konfusion wird hier noch auf die Spitze getrieben: Gaddafi wirft in seinen systemtheoretischen Eintopf alle seine gesammelten Karteikarten und erörtert dann Fragen wie: Was sind Minderheiten? Will das Kind lieber bei der Mutter oder bei der Fürsorgeeinrichtung leben? Braucht eine Gesellschaft Sport, Reitkunst und andere Veranstaltungen? Werden sich die Schwarzen in der Welt durchsetzen? Läuft die Schulpflicht nicht auf eine gewaltsame Massenverdummung hinaus? Schließlich zieht Gaddafi das Fazit, dass Beduinenvölker nicht so dekadent seien wie Europäer oder Amerikaner, die ihre Defizite als voyeuristische Betrachter bei Wettkämpfen und Spielen kompensieren müssten: „Beduinenvölker schauen nicht Ausübenden zu, sondern nehmen selbst an Spielen und lebensfrohen Zeremonien teil, weil sie die Daseinsberechtigung dieser Aktivitäten als natürlich anerkennen und ihre Ausführung daher selbstverständlich ist.“

Für die Lektüre dieser auf 119 Seiten gesammelten Binsenweisheiten benötigt der kultivierte CULTurMAG-Leser höchstens eine Stunde. Doch wir sollen, so empfiehlt es der Klappentext dieses vom Internationalen Studien- und Forschungszentrum des „Grünen Buches“ in Tripolis herausgegeben Bandes, dieses „ewig lebendige Denken, das untrennbar mit dem Leben Muammar Quadaffis verbunden ist und seinem Herzen entspringt“, intensiv studieren –

schließlich habe „der Denker Gaddafi seine Ideen nicht zur Unterhaltung gedankenloser, am Rande des Lebens stehender Leute geschrieben, für die das Denken lediglich ein Rätselspiel“ sei.

Die von Gaddafi unterstützten Terroristen der RAF, IRA u. a. werden es dem begnadeten Autor sicher gedankt haben, dass er seine Universaltheorie zu diesen schlichten Clustern bündeln konnte, die mitunter auch in grünem Fettdruck präsentiert werden, falls man die Quintessenz vielleicht noch in ein Tagebuch übertragen will oder im Knast unter Konzentrationsstörungen leidet. Und vorausgesetzt, man ist bei der Lektüre nicht längst eingeschlafen. Den „Hallo Wach“-Effekt gibt es offenbar nur im Wüstenzelt des Führers, wenn die Nordkurve begeistert „samma hier“ brüllt.

Peter Münder

Muammar al-Gaddafi: Das Grüne Buch. Die dritte Universaltheorie. Hrsg. vom Internat. Studien- und Forschungszentrum des Grünen Buches. Tripolis 1988. 119 Seiten. Ab 7 Euro.