Geschrieben am 22. Oktober 2014 von für Kolumnen und Themen, Litmag, LitMag-Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Ilma Rakusa

ILMA_RAKUSA_Renate von MangoldtGedicht gegen die Angst

Streichle das Blatt
küsse den Hund
tröste das Holz
hüte den Mund
zähme den Kamm
reime die Lust
schmücke den Schlaf
plätte den Frust
neige das Glas
wiege das Buch
liebe die Luft
rette das Tuch
schaue das Meer
rieche das Gras
kränke kein Kind
iss keinen Frass
lerne im Traum
schreibe was ist
nähre den Tag
forme die Frist
lenke die Hand
eile und steh
zögere nicht
weile wie Schnee
öffne die Tür
lade wen ein
schenke dich hin
mache dich fein
prüfe dein Herz
geh übers Feld
ruhe dich aus
rühr an die Welt
Liest und hört man den Namen Ilma Rakusa dann denkt man zunächst nicht an ihre Lyrik. Mit ihren beneidenswerten Sprachkenntnissen hat sie Autoren wie den Serben Danilo Kis, die Ungarn Imre Kertèsz und Peter Nàdas, die Französin Marguerite Duras und aus dem Russischen Anton Tschechow, Marina Zwetajewa und Joseph Brodsky übersetzt.

Und viele andere Schriftsteller mehr. Dann hat sie auch Gedicht- und Erzählbände von Autoren wie Dostojewski, Anna Achmatowa oder Alexander Solschenizyn herausgegeben. Und es liegen eine Reihe von Erzählungen, Essays und autobiographischen Texten von ihr vor. Hervorzuheben sind ihre sogenannten Erinnerungspassagen mit dem wunderbar doppeldeutigen Titel „Mehr Meer“ (Graz, 2009) und jüngst der Erzählband mit dem ebenso irritierenden Titel „Einsamkeit mit rollendem ‚r‘“ (Wien, 2014).

Selten hatte ich in den vergangenen Jahren bei der Lektüre von Büchern einen größeren literarischen und intellektuellen Genuss als bei diesen beiden Büchern von Ilma Rakusa. Sie besitzt vielleicht so etwas wie ein absolutes Gehör für den Reichtum und die Feinheiten der deutschen Sprache. Dabei ist das Ungarische und nicht das Deutsche ihre eigentliche Muttersprache und ihre ‚Vatersprache‘ ist das Slowenische. Heute lebt sie in Zürich, aber ihre Heimat geht weit über die Schweizer Grenzen hinaus.

Als Lyrikerin ist Ilma Rakusa (bislang) noch nicht so bekannt, aber es gibt von ihr neben den Übersetzungen etwa aus dem Werk von Joseph Brodsky und Anna Achmatowa auch eigene Gedichte, die man wie die Erzählungen immer und immer wieder lesen kann. „Das Gedicht gegen die Angst“ gehört dazu, in dem man aus weiter Ferne einen brechtschen Ton zu vernehmen glaubt. Aber im Gegensatz zu Brecht gibt es in diesem Gedicht gegen die Angst von Ilma Rakusa nicht diese rollende Gewissheit letztlich auf der richtigen Seite der Weltveränderung zu stehen. Ilma Rakusa, die ja schließlich die Werke von Autoren übersetzt hat, die ihre ganz eigenen, schlimmen Erfahrungen mit einer ‚Weltveränderung‘ im Sinne Brechts gesammelt haben, ist da sehr viel persönlicher, vielleicht intimer mit ihren poetischen Ratschlägen. „Rühr an die Welt“, ja, auf jeden Fall, aber vorher „mache dich fein/ prüfe dein Herz/ geh übers Feld/ ruhe dich aus.“ Und, man möchte das Gedicht um einen Rat ergänzen, lies ein Buch, geschrieben oder übersetzt von Ilma Rakusa.

Carl Wilhelm Macke

Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Wenn man fast täglich im Rahmen der Koordinierung des Netzwerks „Journalisten helfen Journalisten“ (www.journalistenhelfen.org) mit Mord und Totschlag auf allen fünf Kontinenten konfrontiert wird, dann wundert man sich, warum immer wieder auch verfolgte Journalisten in aller Welt neben ihren Recherchen über korrupte und diktatorische Regime Gedichte schreiben und lesen. Gäbe es sie nicht, es würde uns etwas fehlen – etwas Großes, etwas, das uns leben und träumen, kämpfen und trauern, lieben und verzeihen lässt. Aber “Poesie ist aber auch eine große Sprachübung. Ich kann nicht auf sie verzichten. Sie verlangt tiefe sprachliche Konzentration, und das kommt der Prosa zugute” (Der polnische “Weltreporter” Ryszard Kapuscinski). CWM

Foto der Autorin: Renate von Mangoldt, Quelle: Homepage der Autorin.

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