Geschrieben am 20. Februar 2013 von für Litmag, LitMag-Lyrik

LitMag-Werltlyrik: Ida Vitale

143x219.inddGeschichte

Wir sind die lange Treppe hinaufgelaufen
Haben kaum geachtet auf mögliche
Details links und rechts,
Überraschungen eines Fensters
offen zur Welt hinter den Scheiben,
Spiegelungen, Reminiszenzen
dessen, der vor uns hinaufstieg.
Rasch überquerten wir
die nutzlose Rast des Treppenabsatzes,
liegengebliebene Rosen, alles andere als echt,
die Ranken des immer
auf seine unauslöschliche Weise
blinden Himmels.
Wir stiegen und stiegen
ewig das Gleiche hinauf,
nur wurde das Licht immer schwächer,
der Schacht immer tiefer.

Übersetzt von Angelica Amman

Man glaubt schon einige Dichterinnen und Dichter zu kennen, die mit ihrer Lyrik das große Archiv der Weltliteratur und Weltpoesie bereichert haben, doch dann entdeckt man immer wieder neue Namen, von denen man noch nie etwas gehört hat.

In der wunderbaren, von Michi Strausfeld herausgegebenen Anthologie lateinamerikanischer Lyrik mit dem Titel „Dunkle Tiger“ sind eine Reihe von Autoren vertreten, die jenseits der Experten moderner Lyrik vermutlich nur sehr wenige im deutschsprachigen Raum kennen.

Ida Vitale ist eine dieser Lyrikerinnen, die zu entdecken es sich lohnt. Geboren wurde sie 1923 in Montevideo, Uruguay. Befreundete Zeitgenossen von ihr waren u.a. Juan Carlos Onetti und Mario Benedetti, zwei ganz große lateinamerikanische Autoren des 20. Jahrhunderts. Ihr erster Gedichtband „La luz de esta memoria“ erschien 1949. Sie floh 1973, ein Jahr nach dem Putsch des Militärs ihr Heimatland Uruguay zunächst nach Mexiko, wo sie von Octavio Paz gefördert wurde. Seit 1989 lebt sie in Austin/ Texas.

In dem erwähnten Band über neuere lateinamerikanische Lyrik findet man noch weitere Gedichte von Ida Vitale, jeweils in der spanischen Originalfassung und in der Übersetzung von Angelica Amman. Besonders lesenswert in dieser Anthologie ist auch das Nachwort der Herausgeberin Michi Strausfeld: „Überall in Lateinamerika verehren Millionen Lateinamerikaner ihre Lyriker, kennen ihre Verse auswendig. Das galt für Neruda, der mit jedem Rezital ein Stadion füllen konnte, aber das gilt auch heute.“

Hans Magnus Enzensberger, Durs Grünbein oder Friederike Mayröcker tragen ihre Gedichte in der Münchner Allianz-Arena oder im Dortmunder „Westfalenstadion“ vor… Allein die Vorstellung wäre lächerlich – aber schön wäre es doch…

Carl Wilhelm Macke

Michi Strausfeld (Hg.): Dunkle Tiger. Lateinamerikanische Lyrik. Anthologie. S.Fischer Verlag 2012. 384 Seiten. 24,99 Seiten.

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