Was wir übersetzen: Wörter, Sätze, Texte
„Du bist doch Übersetzerin, was heißt denn refrigerator?“ – Keine Ahnung. Ich bin Übersetzerin, ich kann keine Wörter übersetzen. Fast nie. Nicht mal so vermeintlich eindeutige Wörter wie refrigerator. Von Isabel Bogdan
Das ist natürlich eine etwas wichtigtuerische Pose. In Wahrheit habe ich durchaus eine Ahnung: refrigerator wird in den allermeisten Fällen wahrscheinlich Kühlschrank heißen. Seltener vielleicht auch Kühler oder Kühlwagen oder Kondensator (eines Kühlsystems). Im Einzelfall kann es aber auch mal sein, dass refrigerator mit Schlagbohrmaschine übersetzt werden muss. Oder Staubsaugerbeutel. Das glauben Sie nicht?
Haikus are easy
but sometimes they don’t make sense.
Refrigerator.
Zur Erinnerung: Haikus sind durch eine genau abgezählte Silbenzahl definiert. Ein Haiku besteht aus drei Zeilen mit 5, 7, 5 Silben. Wie in diesem englischen Haiku. Beim Übersetzen muss diese Struktur beibehalten werden, denn sonst wäre es kein Haiku mehr. Der Anfang geht schnell von der Hand:
Haikus sind einfach,
aber nicht immer sinnreich.
…
Und dann? Refrigerator. Fünf Silben. Kühlschrank hat nur zwei. Tiefkühltruhe vier, Gefrierkombination leider sechs. Glücklicherweise kommt es in diesem Fall ja gar nicht darauf an, dass da ein Kühlgerät steht, das Kühlgerät ist egal, da muss irgendetwas vollkommen Zusammenhangloses mit fünf Silben stehen. Bleiben wir doch bei Haushaltsgeräten: Schlagbohrmaschine, Staubsaugerbeutel, Dunstabzugshaube. Suchen Sie sich was aus, Hauptsache, Sie übersetzen refrigerator nicht mit Kühlschrank.
Das ist natürlich ein Ausnahmefall, aber er zeigt sehr schön, dass man tatsächlich keine Wörter übersetzen kann. Nicht mal die, die auf den ersten Blick eindeutig aussehen. Denn je nach Kontext kann fast jedes Wort ganz unterschiedliche Übersetzungen erfordern.
Bei Sätzen geht es schon besser. Sätze kann man meistens übersetzen. Was allerdings nicht bedeutet, dass ein und derselbe Satz in allen Kontexten auf dieselbe Weise übersetzt werden könnte. Noch so ein einfaches Beispiel: Why don’t you sit down?
Die meisten Leute würden das spontan mit „Warum setzt Du Dich nicht?“ übersetzen. Das ist auch erstmal nicht falsch. Allerdings ist es so, dass diese „Why don’t you“-Floskeln (oder auch „Why don’t I“) im Englischen ein ganz übliches rhethorisches Mittel sind, und die obenstehende Frage eine gängige Formulierung, mit der man jemandem einen Platz anbietet. Die angemessenere Übersetzung wäre also – nun ja, da muss man schon wieder nach dem Kontext gucken. Wer sagt das zu wem? Duzen oder siezen die beiden sich, treffen sie sich zum ersten Mal, in welchem Verhältnis stehen sie zueinander, sind sie befreundet, wie alt sind sie, und so weiter. Die passende Übersetzung wird also (meistens) irgendwo zwischen „Nehmen Sie doch bitte Platz“ und „Pflanz dich“ liegen. Es sei denn, der Sprecher möchte wirklich wissen, warum sein Gegenüber sich nicht setzt. Das kann ja auch mal sein.
Was wir übersetzen, sind Texte. Ein Text entsteht nicht dadurch, dass man lauter Wörter hintereinanderschreibt. Oder lauter Sätze. Ein Haufen Wörter wird erst dann zu einem Text, wenn die Wörter zueinander in Beziehung gesetzt werden. Diese Beziehung kann in ihrem Sinngehalt begründet sein, in der Grammatik, in Klang oder Rhythmus, meist ist es eine Mischung aus all dem. Diese Beziehung muss mitübersetzt werden. Das heißt, der Übersetzer wägt, um beim obigen Beispiel zu bleiben, ab, ob die Kühlfunktion des refrigerators ausschlaggebend ist oder irgendetwas anderes an diesem Wort. Hier eben die Silbenzahl.
Texte kann man fast immer übersetzen. Wenn man davon ausgeht, dass man einen Text übersetzt, verlieren zum Beispiel auch Wortspiele ihren Schrecken. Denn natürlich kann man nicht jedes Wortspiel wörtlich übersetzen („wörtlich übersetzen“ ist sowieso so ein Irrglaube), es kann also in der Übersetzung nicht immer an genau denselben Stellen ein Wortspiel stehen wie im Original, dafür kann man aber in der Übersetzung eines reinbringen, wo im Original keines steht. Mit Fingerspitzengefühl natürlich. Am Ende muss die Bilanz stimmen. Aus einem wortspielreichen Text in der einen Sprache wird ein wortspielreicher Text in der anderen Sprache gemacht.
Das ist die allerwichtigste und oberste Literaturübersetzungsregel. Man darf – bei aller Detailverliebtheit und Akkuratesse, die auch sein muss – nie den Gesamttext aus den Augen verlieren. Man muss immer wissen, wo dieses eine Wort und dieser eine Satz stehen. Wie sie sich stilistisch und rhythmisch in ein großes Ganzes eingliedern.
Kennen Sie den schon? Wie viele Übersetzer braucht man, um eine Glühbirne reinzudrehen? Kommt auf den Kontext an.
Isabel Bogdan
Isabel Bogdan übersetzt seit 10 Jahren Literatur aus dem Englischen (u.a. Miranda July, ZZ Packer, Tamar Yellin, Andrew Taylor, Sophie Kinsella, Alice Sebold, Janet Evanovich). Sie lebt in Hamburg und arbeitet gerade an einer Übertragung von Jonathan Safran Foers Buch „Eating Animals“.