geklont
Heinz Czechowski
Zu Mickel
Zu Mickel
Am Ende, das weiß man,
Bleibt gar nichts. Oder doch?
Uns überdauerten
Die Mauern und
Die Gewölbe: Frauenkirche.
Ich bin gefahren,
um sie wiederzusehen: drei
Strafmandate. Dann sah ich,
Mitten im Sand,
Die geklonte Kuh. Das also
Ist sie, dachte ich mir, die ich
Als Kind sah, mitten
Im kalten Winter, das
Ist sie nicht! sagte ich mir
Inmitten der Stadt:
Industrieziegeldächer
Auf Cosels Palais, Steigenberger
Läßt grüßen… Auch der Zwinger:
Die Steine
Zehnfach erneuert, gemetzt.
Am Ende, das weiß man,
Bleibt nichts. Wie Tiere
Gehen die Berge
Neben dem Fluß…
Hier spricht der nackte Grimm, der nicht gewillt ist, in die euphorische Hymne auf das neu erstandene Dresden einzustimmen. Am liebsten würde er schreien, das merkt man deutlich, aber es fehlt die Kraft. Und wozu auch? Die Tatsachen präsentieren sich in unbestreitbarem Vorhandensein, solide gefügt wie für die Ewigkeit, jeder Schrei käme zu spät. Schreien könnte man heute gegen die Waldschlösschenbrücke, aber davon ist hier nicht die Rede.
Heinz Czechowski wurde 1935 in Dresden geboren, wuchs dort auf und erlebte als Kind den Untergang der Stadt im Flammensturm. Heute wohnt er in Frankfurt/Main und ist vielleicht nirgendwo mehr zu Hause. Er hat die deutsche Geschichte der letzten siebzig Jahre da erlebt, wo sie schmerzte, und neben dem Grimm sind es Schmerz und Bitterkeit, die aus dem Gedicht sprechen.
Das Ich, das man hier wohl ausnahmsweise einmal mit dem Autor gleichsetzen darf, wendet sich an einen Freund, Czechowski redet zu Mickel, erleichtert sein Herz – aber als das Gedicht erschien, 2007, war der Dichter Karl Mickel schon ein paar Jahre tot. Ein Überlebender also spricht zu einem Toten und zieht eine Bilanz, niederschmetternd wie ein Stein, aus dem dann das folgende „Oder doch?“ einen schüchternen Hoffnungsfunken schlägt.
Dresdens Wahrzeichen, die Frauenkirche, schien ein für allemal zerstört. Als die ersten Stimmen nach der Wende ihren Wiederaufbau forderten, hielt man die Sprecher für verrückt, den Plan für Irrsinn. Doch dann wurde er über Jahre in die Tat umgesetzt. Czechowski macht sich auf und fährt quer durch die Republik von West nach Ost, um das Resultat anzusehen. Die drei Strafmandate sind schon ein böses Omen, und als er die neu erstandene Kirche sieht, explodiert sein Zorn in zwei Worten: „geklonte Kuh“.
Alles nur fake in der herausgeputzten Stadt, und noch nicht einmal historisch korrekt: Industrieziegel decken das Coselpalais, das Palais Taschenberg ist nun ein Luxushotel, der Zwinger wurde sandgestrahlt, den Steinen fehlt die Patina. Aus „mitten im kalten Winter“ (ein Zitat aus dem Weihnachtslied ‚Es ist ein Ros entsprungen‘) wird „Inmitten der Stadt“, vorher schon heißt es, die Frauenkirche befinde sich „Mitten im Sand“ – zusammen wirkt das so, als stünde das Gebäude einerseits in der Wüste, fern wie eine Fata Morgana aus Legoklötzen, andererseits umtost vom Großstadtlärm. An stille Kindheitswinter oder Weihnachtswunder zu denken gibt der neue Bau keinen Anlass. „das / Ist sie nicht!“, zetert der Reisende. Vorbei, urteilt er, unwiederbringlich dahin, alles eine einzige, ekelhafte Lüge zur Förderung des Geschäfts („Steigenberger läßt grüßen“).
Ein ungerechtes Urteil, möchte man einwenden. Bedenken Sie doch den Eifer, die Mühen, die unzähligen Aktivitäten, den guten Willen so vieler Menschen, die mitgearbeitet haben, dass die Frauenkirche wieder ersteht! Die Besucher, die aus ganz Deutschland anreisen, um staunend und begeistert dieses Wunder mit Augen zu sehen! All das mit ein paar höhnischen Worten niederzumachen und stattdessen die eigene Wut zu feiern, ist doch sehr egozentrisch.
Aber ja. Egozentrik, so hemmungslos wie man will, ist das Vorrecht der Lyrik. Das Einerseits – andererseits der Ausgewogenheit und des Maßes muss sie nicht bedienen. Der Lyriker spricht von sich – und wer Czechowskis Zorn nicht nachempfinden kann (selbst wenn er ihn nicht teilt), wäre emotional schon ziemlich verkümmert.
Und der Schluss? Ist das „bleibt nichts“ vielleicht doch eine Nuance heller als das „bleibt gar nichts“ des Anfangssatzes? Die kursiv gesetzten Zeilen, die darauf folgen, sind ein Selbstzitat. Sie entstammen Czechowskis Sonett ‚An der Elbe‘ und wurden aufgenommen in Karl Mickels Gedicht ‚Die Elbe‘ aus dem Jahr 1973. Ursprünglich hieß der Vers ‚Sanft gehen wie Tiere die Berge neben dem Fluß‘ (sprechen Sie das einmal – wunderschön). Das ‚Sanft‘ hat der Autor gestrichen, es klänge zu versöhnlich. Über die Berge fällt ein Zornesschatten. Aber dass Czechowski das Zitat einfügt, kann auch bedeuten: Diese Verse, vor langer Zeit geschrieben, werden bleiben. Mickel ist tot. Aber du, Leser, lies und schau.
Gisela Trahms
Zu Neuer Wort Schatz (13): Björn Kuhligk
Zu Neuer Wort Schatz (11): Florian Voß
„Zu Mickel“ ist zu finden in:
Jahrbuch der Lyrik 2007
Hg. v. Christoph Buchwald und Silke Scheuermann
S.Fischer Verlag
Frankfurt / Main, 2007
Czechowskis zuletzt erschienener Gedichtband:
Heinz Czechowski
Die Zeit steht still
Ausgewählte Gedichte
Grupello Verlag
Düsseldorf 2000