astlochblick
Jan Wagner
ikone
ikone
so lag sie vor mir. nur ein weiteres brett
aus der maschine, doch in seiner maser-
ung ein gesicht, ein astlochblick, ein lächeln, bereit,
uns allen zu vergeben. der gesang der messer,
ein jubilus von sägen, schnitt um schnitt,
doch niemand sah hin: an ihre förderbänder
und fräsen gelehnt die männer, eingeschneit
von mehl und spänen, jeder in seinem winter.
wieder ist september, steht der wald
als rahmen um das werksgelände, belegen
blätter und sonne ihn mit dünnem gold,
während ich bebend stamm um stamm zersäge:
sie kehrt zurück, wenn ich auch spüre,
wie man sich ansieht, wenn ich auch die lippen
der anderen zu lesen weiß. ich schwöre
dies mit den beiden fingern, die mir bleiben.
Grässliches ist dem Arbeiter, der hier spricht, geschehen: Die Säge ist in seine rechte Hand gefahren und hat drei Finger abgerissen. Trotzdem arbeitet er noch immer im Sägewerk, schneidet Bretter zu, Stück für Stück, unermüdlich, ja besessen. Denn er sehnt das Brett herbei, in dessen Maserung sich ein Gesicht abbildet. Schon einmal, vor Jahresfrist, hat es sich gezeigt: vera icon, das wahre Bild, lächelnd, mit dem „astlochblick, … bereit, uns allen zu vergeben“. Eine Epiphanie in der alltäglichen Schufterei, und der Mann an der Säge ist zutiefst überzeugt, dass sie sich wiederholen wird.
Warum? Was erhofft er? ‚Vergebung‘ deutet auf Schuld und Unrecht. Etwas Lebendiges, ein Baum, wird zerstückelt, immer wieder teilt ihn die kreischende Säge. Wer das je beobachtet hat, wird es als Metapher der Grausamkeit im Gedächtnis behalten. Plötzlich aber leuchtet aus der Maserung ein Gesicht, ein Lächeln, das den Arbeitenden die Absolution erteilt, obwohl sie ihr Tun weder bereuen noch beenden. Es sieht den Mann an der Werkbank an und schenkt ihm durch den Blick die Gewissheit, wahrgenommen und erlöst zu werden von dem ‚Mangel an Sein‘, der die Menschen umtreibt.
Alle möchten wir ja erkannt und gehalten werden, wir gieren danach ein Leben lang. Vor allem, weil die, die mit denen wir leben und arbeiten, diesen Blick für uns nicht besitzen, „eingeschneit von mehl und spänen“, wie sie sind. Da ist jeder nur für sich, „jeder in seinem winter“. Ihnen bedeuten auch die Flecken im Holz nichts, schon gar nicht eine Offenbarung. Im Gegenteil: man tuschelt über den Empfänglichen, und weil in Sägewerken ein Höllenlärm herrscht, muss er den Ungläubigen die Schmähungen von den Lippen lesen. Aber die Ikone wird zurückkehren, ganz gewiss, und diese Hoffnung macht aus der Fabrik einen quasi heiligen Bereich, goldgerahmt vom herbstlichen Wald. Immer mehr Stämme zersägt der Hoffende, setzt das Todesgeschäft fieberhaft fort, um die Ikone aus dem Stamm zu befreien und ihrer ansichtig zu werden.
Und ist ihm der Erfolg nicht sicher? Ist es nicht ein Leichtes, in Wolken, Schatten, Maserungen ein Gesicht zu sehen, wenn wir nur wollen? Sind nicht wir es, die auf das Astloch schauen, damit es als ‚astlochblick‘ auf uns zurückschaut und uns begnadet und begnadigt? So fragt freilich nicht der Arbeiter, sondern der skeptische Leser. Der Arbeiter vernimmt im Rotieren der Messer jubilierenden Gesang, in ‚messer‘ klingt ‚Messe‘ an. Sie haben ihm aber die Finger abgeschnitten.
Wem und was also sollen wir, die Leser, glauben? Zur Identifikation eingeladen von der bebenden, wild entschlossenen Stimme dessen, der hier ‚Ich‘ sagt, hoffen wir auf die Ikone, auch wider besseres Wissen. Fasziniert von suggestiven Bildern und der Eleganz, mit der sich das Gedicht auf die letzte Zeile und ihren schockierenden Schlusspunkt zu bewegt, schenken wir unser Vertrauen aber vor allem dem Autor. Er kann die Ikone nicht herbeizaubern, doch er schenkt dem Arbeiter eine Stimme: Macht der Kunst mitten im Grässlichen.
Gisela Trahms
Zu Neuer Wort Schatz (3): Monika Rinck
Zu Neuer Wort Schatz (1): Marcel Beyer
ikone ist zu finden in:
Jan Wagner
Achtzehn Pasteten
Berlin Verlag
Berlin 2007