sprʔch
Anja Utler
und ich, 1
Vorgestellt von Martin Endres
Anja Utlers Gedichte arbeiten mit der Gegenüberstellung zweier Buchseiten. Zum Gedicht geht’s deshalb über diesen Link. Reto Ziegler von der Edition Korrespondenzen danken wir für die Vorlage.
Wie sich einem Gedicht nähern, das sich versagt, das in sich verstummt – unfreiwillig, vielleicht? Wie über eine Sprache reden, deren Unvermögen ihren Ausdruck bedeutet, deren Ringen um sich und deren Scheitern ihr Zeugnis ist?
Anja Utlers Gedicht und ich, 1 aus ihrem jüngsten Band jana, vermacht ist ein sprachliches Erbe aus der Zeit des Naziregimes, die Rede einer Großmutter an ihre Enkelin. Doch so bekannt diese äußere Szenerie anmutet, und so groß die Gefahr scheint, sich in einer bloßen Revision der NS-Verbrechen zu erschöpfen, so ›ungegenständlich‹ ist Utlers poetische Umsetzung. Im Zentrum steht vielmehr die Frage, wie überhaupt gesprochen werden kann über die Gräuel des Zweiten Weltkriegs, wie ein ›Ich‹ sprechen kann über die eigenen Erfahrungen in dieser Zeit, die Schuld, die Scham, den Ekel.
Der Dialog zwischen den Generationen wird auch typographisch umgesetzt, ereignet sich über den Bund des Buches hinweg auf einander zugewandten, gespiegelten ›facing pages‹. Die rechte Seite steht auf Augenhöhe mit dem links Ausgesagten, wobei die Konturen der Personen im Verlauf des Gesprächs diffundieren und unklar wird, wer fragt und wer antwortet.
»und ich, 1«
Der Titel benennt den ersten Versuch, die Person(en) der Rede zu nennen, von sich her, über sich sprechen zu lassen. Das vorangestellte »und« ist ein Auftakt, ein Ansatz, eine Fortsetzung ohne Anfang. Zugleich zeigt es an, daß es den Anderen gibt, der sich äußern könnte, der vielleicht schon gesprochen hat und auf den man hinspricht.
»sag und wie: wer- sʔsag – «
Der Beginn des ersten Verses schwankt zwischen einem Imperativ, einer Aufforderung zu sprechen, und der Äußerung einer ersten Person Singular: einem Ich, das das, was es sagt, nicht zu Ende sagen kann; das vor dem ›e‹ in ›sage‹ abbricht; das die Sprache verliert, mit der es sich selbst benennen wollte. Was nun folgt, reagiert unmittelbar auf dieses Ereignis und nähert sich der Frage, »wie« (weiter) gesprochen werden kann. Zugleich bewahrt es den Trotz eines nachdrücklichen ›und wie‹, das sich gegen die Resignation behauptet, auch wenn bereits der erste Versuch der Rede unsicher wurde. Der folgende Doppelpunkt verspricht, daß sich nach ihm zeigen wird, wie und daß gesprochen werden kann.
Was jedoch folgt, ist erneut nur ein ›Ansatz‹, ein Wortfragment: »wer-«; der angefügte Trennstrich verweist nur noch auf ein Fehlendes, darauf, daß ursprünglich mehr gesagt werden wollte. Gleichzeitig wird durch diese Amputation ein neues Wort sichtbar, das auf das bisher Gesagte zurückscheint: Der Frage, ob und wie gesprochen werden kann, schließt sich durch das ›wer‹ nun die Frage nach dem Subjekt der Rede an. Eine Antwort darauf bleibt zu diesem Zeitpunkt aber ebenso unbestimmt wie die Bedeutung des anschließenden »sʔ«: ein ›s‹ mit dem Zeichen für einen ›Glottisschlag‹ (ʔ), einem Knacklaut, der gewöhnlich bei der Artikulation aufeinanderfolgender Vokale in der Stimmritze des Kehlkopfes gebildet wird, in einer Lücke. Laut gelesen wird aus dem undeutbaren und scheinbar stummen ›sʔ‹ aber ein ›es‹ und damit ein nur gehörtes Wort für das absolut Unbestimmte und Unaussprechliche. Das Versende »sag – « mit dem Gedankenstrich erweckt zwar nun den Eindruck, daß doch eine Möglichkeit gefunden wurde, nach dem »sʔ« weiterzureden; dabei kehrt die Rede nur zum Anfang des Verses und seinem Ausgangspunkt zurück. Auch wenn nun damit der Eindruck entstehen mag, daß ›nichts‹ gesagt wurde, so hat sich im Verlust der Sprache der Grund für dieses besondere Sprechen offenbart: das Verstummen und der Versuch seiner Überwindung.
Jeder weitere Vers müsste aus dieser Nähe und auf seine radikale Selbstbezüglichkeit hin gelesen werden. Es würde sich zeigen, wie sehr die Sprache auf sich selbst reagiert und gerade im Sprachverlust den Anlass findet, weiterzureden, anders fortzufahren. So würde beispielsweise nachvollziehbar, wie aus der vielfältigen Semantik des Wortes »gerat« die an der Versgrenze gebrochene Formulierung »gerad- // wegs« entsteht. Oder warum die Rede meist dann im Wort für einen Augenblick mit einem Glottisschlag aussetzt, wenn sie den Laut »ʔch« erreicht und das Subjekt an das eigene Unvermögen erinnert wird, ›Ich‹ zu sagen.
Besonders der letzte Aspekt lässt uns den Titel noch einmal neu in den Blick nehmen. Eine in den Leerraum der linken Seite zwischen V.1 und 2 gesprochene Gegenrede von der rechten Seite her vermag eine Antwort zu formulieren auf die zu jedem Zeitpunkt des Gedichts in Frage gestellte Subjektivität: »all present is ich«. Hinter jedem Wort, jedem Versagen und jedem Schweigen wird das Ich der Rede gegenwärtig, das Ich, das sozusagen ›all meine Äußerungen begleitet‹ und das sich mehr an der Rede zeigt denn im materiell Ausgesprochenen.
Martin Endres
Gedichte mit kritischer Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.
Zu Neuer Wort Schatz II (22): Giulia Radaelli
Zu Neuer Wort Schatz II (20): Clemens Kuhnert
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Das Gedicht ist erschienen in:
Anja Utler: jana, vermacht. Edition Korrespondenzen 2009. 112 Seiten. Hardcover mit CD. 13,50 Euro.
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| Zu einem Videoporträt von Anja Utler
| Anja Utler liest aus ,,jana, vermacht“