Feuerwanzen unter der Bank
Jan Kuhlbrodt
Stötzers Lied
Vorgestellt von Artur Krutsch
Stötzers Lied (Auschnitt aus dem Versepos)
Ich war überrascht, als ich ihn kürzlich hier traf;
weil das Beständige ihm ein Ärgernis ist,
hätte sich Anblick des Platzes für ihn über die Jahre
abnutzen müssen; die Flucht hinaus zum Völkerschlachtdenkmal,
Bedeutungsklotz, wie er es nannte, unnütz und hässlich,
zumal hier schon lang keine Messen
mehr stattfanden, mit ihrem Gefitze aus Sprachen und Dialekten,
jenes Gewirr also, das uns einmal die Welt ersetzt hatte.
Die Welt als Anklang, als verhallendes Echo. Wie wenn ein Stein
aus großer Höhe auf eine Flüssigkeit trifft, hineinplumpst.
Wir hatten am Brunnenrand gestanden und haben langsam und lange
gezählt.
Die Erfahrung sagt, es sei Wasser, aber die Sehnsucht
ruft: Magma! Quecksilber, flüssiger Stein vom Saturn.
Wie sollte ich merken, dass das hier, also Leipzig, also vor nicht langer Zeit eine Diktatur war, eine sogenannte DDR, kaum anders als Ruhrstadt jetzt, merk ichs nur an fehlenden Kopftuchmädchen vielleicht oder an den Ampeln. Grenze und Mauer und Stasi und Ost nutzen sich schnell ab, in zu vielen Dokus zu oft gesagt.
Geschichtsverdrossener hör ich’s schimpfen, aber ich tanze und lache lieber, darum bin ich hierhergezogen, wozu dann nostalgische Herrenpoesie?
Man hatte noch Sehnsüchte und konnte noch Magma denken, flüssiger Stein vom Saturn, ich versteh das schon, bin vielleicht neidisch, und dann bringen sie aus Dortmund nur Wasser mit und Bier.
Ich habe Jan Kuhlbrodts Versepos gelesen, Stötzers Lied, heißt es, Gesang vom Leben danach, heißt es, ich habe es in der Tasche, denke an dieses Gedicht und fahre zum alten Messegelände. Dort ist ein Flohmarkt, die ersten packen schon ein, Studenten und Zugezogene wundern sich über DDR Produkte (original) und Militaria, die sie nicht kennen, fremd und skurril, wie auf einem orientalischen Basar. Die Kamera hat mich soundsoviel Ostmark gekostet, hab damit Tito fotografiert, sagt einer zu mir, mit dem ich um eine Praktica feilsche. Aber auf Fotos sieht man die Kamera nicht, sage ich und gehe mit leeren Händen zum Deutschen Platz und auch hier war ich noch nie. Das muss man mir entschuldigen, dem Neuleipziger, dem Deutschen (sozusagen) Jungen zwar, aber der Deutsche Platz ist doch recht öde und im Nacken habe ich die erste Sonne dieses Jahr und goldene Buchstaben vor mir, DEUTSCHE BÜCHEREI, sie blenden mich hinterlistig, dass es gar keinen Spaß macht und sie müssen heiß geworden sein.
Und warum warst du noch nie in der Nationalbibliothek? Ein Büchermensch bin ich, sagt man, aber ich setze mich doch lieber gegenüber auf die Bank und hoffe auf die Raucher, die mir Feuer geben, aber die Treppenstufen zur Bibliothek sind leer, die Selbstgedrehte in meinem Mundwinkel bleibt kalt, eine Dreierformation gemeiner Feuerwanzen kriecht über noch feuchte Erde auf mich zu. Feuerwanzen gibt es in Dortmund nicht, da bin ich mir sicher, wo habe ich sie zuletzt gesehen? Rechts der spitze Turm hinter Funktionsbau, roter Stern, russischer Pavillion, der Flohmarkt müsste vorbei sein, ob er die Praktica verkauft hat?
Aber ja: ich habe mal ein Feuerwanzenheer als deutsches Kind mit russischem Wasser gejagt, Soldatiki nennt man die Viecher dort, wegen der roten Uniformen damals, als man auf Pferden noch prachtvoll in die Schlacht zog, bevor man sich zu tarnen begann – haben die Russen gegen Napoleon gekämpft? Ich werde es nachgucken.
Das Mädchen, das dort aus der Bibliothek dickstieflig schlurft, zündet sich eine Zigarette an und setzt sich neben mich, macht eine Lesepause in der Sonne. Verlegen in den Taschen wühlend, frage ich lächelnd nach Feuer und ob man denn von hier aus das Völkerschlachtdenkmal sehen könne, es müsse doch nicht weit sein, ob sie denn schon mal da war. Aber sie tut nur peinlich, sie haben ja soviel zu tun im Studium und in den zwei Jahren, seit sie in Leipzig lebe, war sie nicht ein Mal da, achje.
Sie könne doch mit mir dorthin gehen, zum Bedeutungsklotz, sag ich immer, sage ich und lache, es sei ein schöner Nachmittag. Sehr gern, sagt sie, zieht Augenbrauen milde hoch oder genervt, aber sie müsse noch ein bisschen was machen und drückt ihre Zigarette aus mit fetten Stiefeln. Ja, ich müsse auch noch was machen, sage ich und folge ihr die Treppen hoch, ins Dunkel durch die schwere Tür, zu aufdringlich nah hinter ihr, aber es ist gut, dass sie schnell hinter einer Ecke verschwindet, mich loswerden will und nicht sieht, dass mich der Herr mit Namensschildchen an der Brust nach dem Benutzerausweis fragt. Welcher Benutzerausweis? Wo kriege ich ihn? Sechs Euro pro Tag? Achso, jadanketschüss.
Dann bleib ich halt auf der Bank sitzen, schaue den Feuerwanzen zu, lausche den Meisen und merke erst jetzt, dass jemand schon den ganzen Tag ein Lied in meinem Hinterkopf singt, eine fremde Stimme, ein lauter werdender Ohrwurm, der in mich kriecht, dass es mich ängstigt, dass ich das Lied laut mitsingen muss, dass meine Zehen anfangen zu wackeln, dass ich den Feuerwanzen unter die Bank folge.
Das also ist Stötzers Lied.
Artur Krutsch
In Fortsetzung der Neuer Wort Schatz Reihe von Gisela Trahms lesen Sie hier von nun an Neuer Wort Schatz 3, jede Woche eine Gedichtrezeption. Die Beiträge werden zusammengestellt von Carolin Callies und Yevgeniy Breyger.
Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier, zur zweiten Staffel hier, die aktuellen Texte finden Sie hier.
Jan Kuhlbrodt: Stötzers Lied. J. Frank Verlag 2013. 180 Seiten. 13,90 Euro. Foto Kuhlbrodt: Privat.