Geschrieben am 7. Dezember 2009 von für Litmag, Neuer Wort Schatz II

Neuer Wort Schatz II (12): Farhad Showghi

Fenster

Farhad Showghi
Erst das Fenster zeigt

Vorgestellt von Tobias Amslinger

Erst das Fenster zeigt. Erst die Berge. Zeigen die Stadt
dazwischen, lassen zurück. Bäume, Bäume, Platanen zum
Beispiel. Als gäbe es ein Mindestmaß an Hinaus und Wei-
ter. Sozusagen an Aufragen und Verschwinden. Lächeln,
als sei etwas damit so gut wie entwischt. Also vergangen.
Wenn das Fenster zuerst. Und die Berge zuerst.    Wenn
von dem Einen leicht auf die Anderen geschlossen und
ein gutes Stück weiter ausgebreitet mit Wolken und Wet-
ter, und diesmal mit den Bäumen zurück. Unversehens
bis zur Tür. Also gerade: Vergangenes Gehen. So gut wie:
Mit den Füßen.

Erst einmal zögert man. Ist das wirklich ein Gedicht? Wo sind denn dann die Verse? Aber eine Geschichte ist es doch wohl ebenso wenig. Oder was wird hier erzählt? Man überlegt hin und her, und dann fallen einem August Wilhelm Schlegels Worte ein: „Eine uralte, schlichte und bürgerliche Meinung ist die, alles in Versen Geschriebne für Poesie zu halten.“ Man denkt vielleicht auch an Les Murrays großes Buch Fredy Neptune, das vollständig in Versen verfasst ist, und das doch trotzdem ein ganzer Roman ist. Plötzlich erscheinen einem alle germanistischen Schubladen fragwürdig. Sagen wir also guten Gewissens: Farhad Showghis Text ist ein Gedicht. Versuchen wir herauszufinden, was damit gemeint sein könnte.

Das Gedicht beginnt scheinbar ganz einfach, mit einem Blick aus dem Fenster. Man denkt: Jetzt wird beschrieben, was es draußen zu sehen gibt, vielleicht die Straße vor dem Haus, Kinder, die darauf spielen. Aber schon die nächsten beiden Sätze verletzen diese Erwartung: Berge sollen wir sehen? Und die Stadt soll zwischen den Bergen, von den Bergen zurückgelassen sein? Befinden wir uns etwa gar nicht mehr in der Stadt, im Haus? Was sehen wir zuerst? „Erst das Fenster“ oder „Erst die Berge?“ Plötzlich ist die Situation des Betrachters gar nicht mehr so klar, wie es zunächst schien. Und dann: „Bäume, Bäume, Platanen zum Beispiel.“ – Es könnten also auch ganz andere Bäume sein.

Nein, hier wird kein realer Anblick geschildert. Hier wird nicht nach der Natur gezeichnet. Die klare Abfolge der Sätze, ohne Versumbrüche, täuscht darüber hinweg, dass hier eben nichts linear geschildert wird. Vielmehr – und das macht den Text zu einem Gedicht – entsteht langsam ein Netz von Orten, zwischen denen der Blick springt: Vor, zurück, nach unten, nach oben. Im einen Satz sind wir hier und im anderen ganz woanders: Von dem Einen wird „leicht auf die Anderen geschlossen“. Alliterationen wie „zeigen … dazwischen … zurück“ wirken wie die Knotenpunkte des Netzes auf lautlicher Ebene. Auch sie führen von Ort zu Ort, von Wort zu Wort.

Einerseits also der Blick aus dem Fenster in der Stadt. Andererseits die Berge. Zwischen diesen beiden Polen, zwischen Nähe und Ferne, wandern die Texte Showghis. Ständige Motive sind: das Fenster, die Tür, das Gehen. Die große Entfernung, so der Titel des Bandes, findet sich auch in Showghis Biographie wieder: Geboren in Prag, aufgewachsen im Gebirgsland Iran und in Deutschland, lebt er seit 20 Jahren in Hamburg, der Stadt, in der es keine Berge gibt.

Wie schon in Ende des Stadtplans (2003) wird in den Texten des Bandes eine Landschaft kartographiert, die eigentlich nicht kartographierbar ist. Showghis Schreiben beginnt dort, wo wir bekanntes Terrain verlassen, der Stadtplan zuende ist. Der Blick wandert zwischen Vertrautem und Fremdem. Poetische Linien zeigen sich, die nicht auf Europa beschränkt sind, sondern tief in die persische Poesie führen. Nie bleiben die Netze der Bilder und Laute auf einzelne Gedichte beschränkt. Showghis Texte greifen ineinander über und schreiben einander fort. Konsequenterweise sind sie in Zyklen angeordnet.

Schließlich führt das Verfolgen der Netze dazu, dass man selbst an sie anknüpfen möchte. Das Lesen des Gedichts verändert den Blick aus dem eigenen Fenster: Diesige Luft, durch die die Kräne der Baustelle nur schemenhaft schimmern. Langsam stellen sie Buchstaben dar. Die schwarzen Schieferplatten auf dem Dach gegenüber: Fischschuppen. Wir schwimmen davon.

Tobias Amslinger

Gedichte mit Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.

Zu Neuer Wort Schatz II (13): Philip Maroldt

Zu Neuer Wort Schatz II (11): Alexandra Bernhardt

Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier


Das Gedicht ist erschienen in:

Farhad Showghi
Die große Entfernung
Urs Engeler Editor 2008
96 Seiten, 17,00 Euro