Schönheitserreger
Philip Maroldt
sepsis
Vorgestellt von Tom Bresemann
sepsis
die landschaft eichen: lavendel, ein singender
strauch. ein einstich von unbekannt. gift-
spritze ins gelobte licht [auf den ledrigen
laubblättern liegend]. linksseitig
eine rötung der leiste, ein kontaminierter kreis
[darin vielleicht blütenstaub aus 13-nervigen kelchen,
darin paradiesresistente erreger, vielleicht].
die fruchtbarkeit in die lymphbahnen eingeführt.
genießbar durch angstschweiß: bitterstoffe sind
auszuschwemmen. dann: hohe haltbarkeiten
als regel. ausnahmeanfälle jederzeit denkbar.
die wulst am schenkel ist auftakt zum zeichen-
system, schnelle fortpflanzung in den unterleib.
wo das bein beginnt, der geschwollene
knoten: die hautspannung [vibrat-
ionen] reicht, daß es reißt in den lenden. der tod
nimmt gestalt an in spitzen.
Was mich an Philip Maroldts sepsis schon beim ersten Hören beeindruckt hat, ist die Unerbittlichkeit der poetischen Notaufnahme. Verblüffend deutlich steht dem Text die ganz und gar nicht selbstverständliche Gewissheit eingeschrieben, dass die kontaminierte Paradies-Wirklichkeit des Körpers Keimzelle des Schönen ist.
Der sepsis-Text verlangt viel, gerade aufgrund der Unerbittlichkeit des ästhetischen Anspruchs an die Sprache, wahr zu sein. Form ist das Instrument, dem sich jeder Begriff von Ideal und Wirklichkeit, Krank- und Schönheit, Kontamination und Selbstbehauptung ausgesetzt sieht.
Mit jeder voranschreitenden Befragung des Sprachmaterials wächst im Gedicht der Datenbestand an, und mit ihm zwangsläufig der Bedarf an Datenverarbeitung. Sprachlich stellt sich dieses Wachstumspotential als Versammlung diverser, auf einander zu geführter Sprechweisen dar. Im Text lassen sich die verschiedensten Ebenen entdecken, die in ihrer Vielheit stringente Gestalt annehmen:
Das dominante Sprachmaterial ist ein sehr nüchtern gehaltenes Vokabular, von neuronalen Fachtermini bis hin zu saloppem Umgangsmedizinisch. Daneben finden sich immer wieder sprachliche Auswüchse, durchaus unansehnliche dazu. Neologistische Kombinationsversuche dürfen hier auch schmerzen. ?Wirklich überraschend sind für mich die eingefügten Versatzstücke an literarischem Material, die im Verlauf des Textes, in der Variation, als Wiederaufnahmen erscheinen. Philip Maroldts Justierung auf die eigene Sprechwelt hin nimmt ihnen in der variierenden Wiederholung die Fremdheit.
Was hält den Text zusammen, wenn nicht Strenge im Umgang mit den Instrumentarien des Schriftstellers: den Worten, ihren Geschichten und der gefährdeten, vergiftet-schönen Menschen-Existenz, die jedem Ich-Sager eignet? So gerät beispielsweise die Toskana ins Visier des Textes, gleichermaßen als biographische Folie wie als literaturhistorischer Sprechgrund, ebenso Droste-Hülshoffs „Sonnenleiche“, um nur zwei Beispiele herauszupicken.
Der Text begreift den Körper als Instanz der Wahrnehmung und der Sprache, als Kanal des Wirklichen wie des Poetischen, als Kanal eines mächtigen Durchdringungspotentials. Dass Maroldt an diesem Begreifen entlang schreibt, eröffnet die Utopie einer jederzeit möglichen De- und Rekategorisierung, eine Utopie, die nichts weniger als die Kernkompetenz der Spreng- und Zauberkraft GEDICHT abbildet.
In diesem Sinne ist sepsis gerade in der vorliegenden Fragmentform ein echtes Gedicht; eines, das mir etwas bedeutet. Denn die Fragmentform hat nichts Zufälliges an sich. Weder beginnt noch endet der Text „einfach so“. Vielmehr steht das aphasische Wiederholen des tan unter Berücksichtigung der Wachstums-Form in einer gesetzmäßigen, ja fast schon naturgemäßen, poetischen Konsequenz.
Das „Ende“ des Textes, so wie es uns vorliegt, hat nichts mit Kontrollverlust zu tun, auch wenn der Sprechgestus, vor allem auch wegen des vorangehenden, gelungenen Zeilenbruchs, mit dieser Option spielt. Die Aphasie des Monsieur Tan bedeutet eben nicht, dass der Patient nichts mehr verstehen können oder hätte sagen wollen. Die Mitteilungen reißen nicht ab.
Genauso wenig unkontrolliert ist das Wachsen der Strophen-Abschnitte. Sie führt auf etwas zu, mit aller Konsequenz. Acht Verse zunächst, dann neun, zehn,… schließlich dreizehn Zeilen. Was ansteht, aber ausgespart ist, sind noch einmal 14 Zeilen.
Das Fragment also als Voraussetzung eines ungeschriebenen Sonetts – dieser dem aphasischen Sprechen in gewisser Weise fast ähnelnden Aussageform?
Tom Bresemann
Gedichte mit Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.
Zu Neuer Wort Schatz II (14): Jan Wagner
Zu Neuer Wort Schatz II (12): Fahrad Showghi
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