einrasten
Jürgen Brôcan
Spin-Off eines Gedichts von Jorie Graham
Vorgestellt von Jan Kuhlbrodt
Spin-Off eines Gedichts von Jorie Graham
weil der Geist irgendwo ein-
rastet mit unhörbarem Klick,
weil er voller Widerhaken ist,
zuschnappt, sich festbeißt,
weil es verblüffend ist, daß
die Dinge funktionieren wie
sie funktionieren, ineinander
greifen, aneinander halten:
Magnete — Klebestreifen —
Spermien & Eier, weil sich
Alles aus einigen Grundformen
herausverästelt, multipliziert,
Nägel & Hämmer & Zangen,
darum glaube ich an euch,
Drehkreuze, Schnittstellen,
darum glaube ich an euch,
Hacken & Äxte & Sägen,
auch wenn sie nicht trennen
zwischen Holz und Einge-
weiden, ist’s verblüffend, wie
sie funktionieren, weil Axone
an Dendriten docken, weil
zuletzt etwas einrastet, etwas
Instabiles, wie Vernunft
Es gibt mindestens zwei Arten von Kunst. Eine, die durch ihre Schönheit betört, bei der Fragen erst nach einer Zeit der Betrachtung, nach einer Art Sättigung aufkommen, und die zweite, die die Gedanken sofort kreiseln lässt, die wie ein Fragengenerator wirkt. Ich kann nicht sagen, welche Art mir die liebere ist.
Da arbeitet einer und redet dabei, sagt mir, was er tut, dachte ich, als ich den Text las, der mir für Jürgen Brôcan auf den ersten Blick untypisch schien. Er arbeitet mit Worten, einem Material also, das er bereits vorgefunden hat. Spin-off ist sein Verfahren, eine Vorgehensweise, die vom Fernsehen herrührt: Aus der Nebenrolle in einer Vorabendserie schält sich ein Charakter heraus, der an Prägnanz gewinnt und später eine eigene Serie bekommt. Übertragen aufs Gedicht also: Eines der Motive eines Gedichtes verstärkt und verdichtet sich und wird schließlich ein eigenes Gedicht. Ein Drehmoment entsteht, etwas rastet ein.
Dichtung erscheint hier als Eingreifen in vorhandene Dichtung, ein Anbohren des Stammes, um den Saft, den er hergibt, für sich selbst abzuzapfen, „Nägel & Hämmer & Zangen,/ darum glaube ich an euch,/ Drehkreuze, Schnittstellen,/ darum glaube ich an euch,/ Hacken & Äxte & Sägen“.
Aber niemand würde sich freiwillig nur als Abzweig definieren, als Enkel der Schillers und Heines, als Punkt im eher dürren Geäst des obersten Teils eines Stammbaums. Schnittstellen, Drehkreuze? Das würde voraussetzen, dass Dichtung rein aus Dichtung resultierte; der Baum darin eben als Baum bloß Zitat ist, ein platonisches Dichten, ein Schattenspiel.
Wo kommen dann aber die Magnete, Klebestreifen, Spermien und Eier her?
„Sehen heißt ändern“, so das titelgebende Gedicht von Jorie Graham in einer fulminanten, von Brôcan herausgegebenen Anthologie. „Die Dinge funktionieren/ so, daß schließlich etwas einrastet“ heißt es darin.
Dann ist plötzlich die Welt wieder da und zwar eine, die bearbeitet ist und ursprünglich zugleich, dann ist die Welt Schöpfung (von wem?) und Werkzeug, dann hat in der Verrichtung auf einmal alles seinen Platz: Auch „wenn sie nicht trennen/ zwischen Holz und Einge-/ weiden, ist’s verblüffend, wie/ sie funktionieren.“ Die Welt als eine Variante der Welt.
Und das Drehkreuz verwandelt sich mit einem Mal zurück in jenes stählerne Gestell, das am Eingang angebracht ist, am Eingang (oder Ausgang) zu irgendwas; das vom Passanten verlangt, sein Tempo zu zügeln.
Ist das noch eine Poetologie? Vielleicht. Aber vielmehr eine Art Erkenntnistheorie. Weil zum Schluss etwas einrastet, etwas Instabiles wie Vernunft.
Später, ich konnte es mir nicht verkneifen, bestellte ich mir einen Band von Jorie Graham: Region of Unlikeness. „Schon zu Anfang,“ heißt es darin in einem Gedicht: „schon bevor sie schlüpften/ war alles das gewußt werden konnte/ vorbei“. Erkenntnis also nur im Nachhinein, als Erinnerung und ohnmächtig gegenüber der Wirklichkeit?
Nein, Erkennen ist Eingreifen in das, was ist, indem das Gedicht es uns auf neue Weise vor Augen stellt. Aus einem ›an sich‹ ist ein ›für uns‹ geworden. Ein Spin-Off eben, ein Abzweig.
Und wenn man Brôcan liest, weiß man, dass seine Erkenntnis im genauen Beobachten liegt, einem Beobachten, das sich, um der Genauigkeit willen, nicht zu schade ist, handfeste Werkzeuge zu benutzen. So ist der Text also gar nicht mehr untypisch für Brôcans Schreiben, weil die Dinge funktionieren und wir, indem wir sie und den Handwerker betrachten, staunend realisieren, dass „zuletzt etwas einrastet, etwas/Instabiles, wie Vernunft“.
Jan Kuhlbrodt
Gedichte mit Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.
Zu Neuer Wort Schatz II (17): Jan Skudlarek
Zu Neuer Wort Schatz II (15): Jürgen Nendza
Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier
Jürgen Brôcan: Ortskenntnis.
München 2008: Lyrikedition 2000
Photo: Frank Wierke