Rauchpause
Sabina Naef
leichter Schwindel …
Vorgestellt von Daniel Graf
leichter Schwindel
sie schließt die Augen
wie ein Seemann
im Platzregen
im Wetterleuchten
in einer Rauchpause
„Doppel-Trochäus“, sagt die Metrik, als wüsste sie Bescheid. Nur spricht sie dieses „leichter Schwindel“ aus wie, sagen wir, „Manche freilich“ auch; schert sich nicht drum, dass Hofmannsthals Titel schreitet und Naefs Vers tänzelt. Da kann man dem Metrum noch so oft den Löwenanteil am Faszinosum Gedicht zuschreiben: Aussagekräftig wird das Akzent- und Silbenzählen doch vor allem durch seine Unzulänglichkeit. Weil poetischer Rhythmus nunmal nicht im Taktraster aufgeht, nicht isolierbar ist von Wortbedeutung und Bildsprache, von (An)Klang und optischer Komponente, durch die das Lesen schon vor der Lektüre beginnt.
Man hat die Maße dieses winzigen Texts ja bereits umrissen, bevor sein erstes Wort entziffert ist, hat schon vorher wahrgenommen, dass da etwas außerordentlich Kleines vorliegt. Und das ist nicht bloß eine Äußerlichkeit, sondern berührt bereits den Nerv von Sabina Naefs unverkennbarer Schreibweise. Steht die Miniatur insgesamt recht hoch im Kurs in der zeitgenössischen Lyrik – bei Sabina Naef wird sie zum Mittelpunkt einer ganzen Poetik. Aber diese konsequente Kürze schielt nicht nach der Pointe, hält größtmöglichen Abstand zur fixierenden Sentenz.
Stattdessen hier ein Schwebegedicht. Eins, das sich so schmal macht wie sein erster Buchstabe und alles Getöse außen vor lässt. Sein Inhalt: nur ein (behutsam gedehnter) Augenschlag. Doch kein Schicksalsmoment wird hier eingefangen, keine „Sekunde der Entscheidung“. Und schon gar nicht versucht Naef, ein bedeutungsschweres Symbol zu malen.
Ein Zigarettenpausen-Text. Leichter Schwindel, kurze Irritation der Wirklichkeitskoordinaten. Ein kleiner Rollentausch im Kopf, eine leichte Schummelei. Eine Sie wird zum Seemann, der klanglich auch ein Seh-Mann ist, hier die Augen aber schließt. Einen, nun ja: ›Augenblick‹ lang also Verweigerung von Alltagsaffirmation, ein Austritt aus der (fremden oder eigenen) Funktionszuschreibung. Das geschäftige Tosen wird stillgestellt, der Rauch hat Pause.
Die sanfte Sabotage des Funktionalen gilt natürlich auch der Sprache selbst. Nicht nur die Doppeldeutigkeiten von Einzelworten sind es, die die feste Referenz aushebeln. Auch die Abfolge bringt die Signifikanten ins Taumeln. Das ist umso erstaunlicher, da das ganz ohne inszenierte Spannung zwischen Vers- und Satzstruktur vonstatten geht. Keine harten Enjambements, keine Apokoinous, kein grammatischer Verstoß. Nur ein einzelner Vergleich und eine zweite Gedichthälfte, in der sich ausgerechnet durch drei parallel konstruierte Angaben deren Bezüge verunklaren.
Ab dem Wie der dritten Zeile ist nichts mehr eindeutig: Schließt sie, im Regen stehend, die Augen, wie das Seemänner tun? Oder schließt sie sie wie ein Seemann im Platzregen? Auf welcher Seite der Imaginationsgrenze blitzt das Wetterleuchten? Und wer (oder wie viele) raucht da überhaupt? Man wird allerdings nicht ernsthaft wissen wollen, ob denn nun die Dame nass wird oder der imaginierte Matrose. Was dieses Gedicht interessiert, ist der Moment, in dem das solche Fragen nicht tun. Denn ob diese Sie sich das Donnern einbildet oder selbst im Regen steht (der durch die Seemann-Assoziation subjektiv ein anderer würde) – so oder so wird sie in der Sekunde, die hier in den Blick genommen wird, zum Seemann im Wetterleuchten; so oder so platzt ausgerechnet der tobende Regen in das ganz andersartige Toben der Betriebsamkeit, um deren Taktung für einen Moment auszusetzen.
In solcher feinsinniger Poetisierung des Gewohnten kann man den eigenen Reiz von Naefs Kurzgedichten sehen – aber auch ihre Kehrseite, weil Aufwühlendes oder gar Verstörendes in ihnen keinen Platz zu haben scheint. Ihre Poetik des Unprätentiösen enthält allerdings auch ein kritisches Moment, wenn sie Vorbehalte anmeldet gegen lautsprecherische Wortauftritte, deren leise Ironisierung die zweite Gedichthälfte betreibt. Platzregen, Wetterleuchten: Fast schraubt sich der leichte Schwindel doch noch hoch in den Bereich der großen Worte, streift sogar klassische Erhabenheitstopik. Aber bevor sich die Bilder wirklich aufblähen könnten, lässt die semantisch abweichende Schlusszeile lapidar die Luft raus und kennzeichnet die Rede als das, was sie ist: ein raffiniertes Spiel, ein kleines Intermezzo.
Daniel Graf
Gedichte mit kritischer Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.
Zu Neuer Wort Schatz II (20): Clemens Kuhnert
Zu Neuer Wort Schatz II (18): Ulrike Brügger
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Das Gedicht ist erschienen in:
Sabina Naef: leichter Schwindel. Gedichte.
Wien: Edition Korrespondenzen 2005.
80 Seiten. 17,40 Euro.
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