U/Topos
Ulrike Almut Sandig
russenwald
Vorgestellt von Andrea Sakoparnig
russenwald war, worüber wir pfiffen, wohin
wir nicht gingen, wo bündel aus licht in höhe
der fichtkronen aufstiegen, rot, wo die asche
von kippen und verbogener stahl die gräben
bestrich an der grenze zum feld. am ortsrand
bewegten sich tische und etwas weckte uns
spät: es gab weiter hinten das ende vom weg.
betreten verboten vermintes gebiet/heide
fallbaum lichtung moosrand/krater rotwild
leere dörfer/backsteinhallen erika. es gab
panzerzüge, lkws, dunkelgrüne planen, drinnen
standen vierzig mann, die schauten nach hinten
in reihen heraus, alle köpfe rasiert. und es gab
diesen einen, der vier stunden stillstand, im juli
die hitze, auf der kreuzung allein, bis sie rollten
in dreißig maschinen vorbei, und er hebt seine
rechte: militär vorfahrt/bis staub und das bellen
von hunden und er sich nicht rührt/schmaler
junge abendrot/mittelstreifen grün. es gab sie
schon immer und manchmal brachen sie latten
vom zaun und schnitten den kohl auf und
schossen die hennen. wer satt war,
lief weiter zum fischteich, zur sonne, und tauschte
mit kindern abzeichen ein, rot und sichel gegen
freundschaft. wer das tat, kam lange nicht
wieder. wir warteten umsonst.
Von ihm spricht man nicht. Er ist kein Ort, von dem aus sich sprechen ließe. Man ist nie da gewesen. Deshalb ist er nicht einmal: ›er‹. Er ist ein Ort, »worüber« man pfeift, nicht spricht. »russenwald« hat sein ›worüber‹, nur nicht der Sprache. »russenwald« hat sein ›wohin‹, nur nicht des realen Hingehens: »wohin wir nicht gingen«.
»russenwald«, das ist ein Ort jenseits der Sprachgrenze, jenseits des Erreichbaren: ein Utopos, ein Topos in der Lyrik Ulrike Almut Sandigs; zugleich ein locus communis: ein gemeinsamer Ort des Erinnerns, ein Ort des ›wir‹.
So setzt das Gedicht unvermittelt mit dem ein, was nur in der Sprache ›ist‹ und namhaft werden kann: »russenwald« ist ein von der Erinnerung besetzter Ort. Seine Attribute hängen in immer länger werdenden Nebensatz-Ästen an ihm: Oben in der »höhe«, in den »fichtkronen« noch kurz, am Boden lang und bis zur »grenze zum feld« auslaufend. Von ihm selbst aber weiß das ›wir‹ nichts zu sagen. Es kann nur seine Spuren lesen, »bündel aus licht in höhe«, aus der Entfernung und seine Überreste, »asche von kippen und verbogener stahl«. Erhaben zieht er an, fasziniert und stößt ab, bedroht – fascinosum und tremendum der Erinnerung.
Der »russenwald« ist damit auch vor allem ein Grenzgebiet der Sprache. Sie will es beschreibend einnehmen und tastet sich nur an seinem Äußeren von Nebensatz zu Nebensatz, von Wort zu Wort entlang. »am ortsrand«, zwischen dem heimatlich Inneren und dem unbegreifbaren Äußeren verliert sich das ›wir‹. Die Objekte werden zu Subjekten, das ›wir‹ zum Objekt durch die Bewegung des Verbs: »bewegten sich die tische«. Mit der Verschiebung des Satzsubjekts schleicht sich »etwas« in die Sprache ein. Ein der Sprache Entferntes, das sie nicht bestimmen kann, reduziert die Rede auf die bloße Aufzählung: »es gab weiter hinten«.
Das Utopische kann nicht geschildert, nur beschildert werden: »betreten verboten vermintes gebiet«. Der Sprechinstanz bleibt nur, Wegmarken zu setzen: »heide fallbaum lichtung moosrand/krater rotwild [/] leere dörfer«. Die Binnenversgrenzen markieren den Schnitt durch die Sprache. Mit der aufgesprengten Syntax verliert sie ihre Kraft der Zusammenordnung von Subjekt, Verb, Objekt. Nicht einmal durch gliedernde Interpunktion wahrt sie ihre Souveränität. Disparat und unverbunden stehen die Worte auseinander.
Inmitten des Gedichts als dessen Epizentrum dann doch die Isolation des Einen aus der Masse der »vierzig mann« mit rasierten Köpfen. »diesen einen« vermag die Sprache noch mit Bestimmtheit zu nennen. Sie kann wieder ordnen, relativieren (»der vier stunden stillstand«), bestimmen und verorten (»im juli/ die hitze, auf der kreuzung allein«), als hätte sie an diesem »einen« Halt. Konzentrisch daher auch die Anordnung der folgenden Nebensätze um ihn herum. Von ihm geht die Bewegung, die Erschütterung des Textes aus. Auf sein Kommando, seine sprechende »rechte:«, setzt der Einzug des Militärs ein. Die heimatliche Umfriedung – der »zaun« und damit der Friede – ist gebrochen (»brachen sie latten vom zaun«).
Einige von den Soldaten jedoch tauschen ihre »abzeichen […], rot und sichel gegen/ freundschaft« »mit kindern«. Sie kündigen damit ihre Funktion auf und werden von anonymen Militärs »in reihen« und Glied zu Subjekten: »wer«. Sie geben im Tausch die feindlichen »abzeichen« auf: Die Zeichen, die von allen anderen ab-stehen, die trennen – ausgerechnet sie werden nun zu Mitteln des Austauschs.
Die aus ihrer militärischen Funktion austreten, kommen aber »lange nicht« zurück und kehren nur in der Sprache »wieder«. Dem Einzug des Konvois entspricht nun ein Einzug am Anfang des letzten Verses: Das Warten der Kinder bleibt »umsonst«. Aber nunmehr, in dieser Leerstelle der Sprechpause, als Utopie positiv erfahrbar. Solchermaßen spricht Sprache doch von dem, worüber sie nicht sprechen kann. Sie gibt ihm einen Ort, einen utopischen Ort in sich; einen Ort der Erinnerung jenseits der Sprache, innerhalb ihres eigenen Gebietes.
Andrea Sakoparnig
Gedichte mit kritischer Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.
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Das Gedicht ist erschienen in:
Ulrike Almut Sandig: Streumen. Connewitzer Verlagsbuchhandlung 2007. 75 Seiten. 15,00 Euro.
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