Kosmonauten
Steffen Popp
Mondstudien
Vorgestellt von Gisela Trahms
Mondstudien
Dieses Empor! Dann langes Bewegen seitwärts
Freundschaft, Gebilde
ein Steigen der Augen, ihr Sinken im Traum
Bildaufbereitung im Garten, hinter dem Gartenzaun
gefühlte Entropie zwischen Lauben, die Kolonie
Zur Sonne warf Dunst auf, Gemüsedunst
trunkene Luft aus Gewächshäusern nebelte, zog
durch unsere erdnahen Hirne direkt zum Mond
den wir nicht erreichten, verhinderte Kosmonauten
mit Operngläsern, selbst gestrickten Hauben
auf einer Holzbank unter der Wolkenbank.
Da sitzen sie auf der Holzbank in der Laubenkolonie, die verhinderten Kosmonauten, atmen Gemüsedunst und treiben Mondstudien mit dem Opernglas. Sind sie nicht ein Witz in ihren selbst gestrickten Hauben? Zweifellos, aber ein liebenswerter. Ohne Arroganz, ohne Überheblichkeit blickt hier jemand auf diese etwas schräge Idylle und lächelt still angesichts der kindlichen Torheit.
Dass die Möchtegern-Kosmonauten Kinder sind, wird nicht gesagt, aber der Text legt es nahe. Seine erste Folie heißt: Erinnerung, heißt: So war es. Verben im Imperfekt, fragmentarische Bilder der Laubenkolonie, das Zugleich der sinnlichen Eindrücke (riechen, sehen, fühlen), der Traum. So wurden sie erlebt, die langen Sommerabende bis in die Dunkelheit hinein, so roch es in den Gärten, üppig, schon faulig, so dass die Luft wie trunken war. Und bei den Jungs die Phase des Weltraumwahns, die Vorstellung: da ist der Mond und man könnte ein Kosmonaut und dort oben sein.
Die zweite Folie des Gedichts: Realität. Die Hirne bleiben „erdnah“, und eher schafft es der Gemüsedunst zum Mond empor als die menschlichen Körper, die auf Wolken nicht sitzen können. Sie brauchen Holzbänke für ihre Hintern. Und nicht zuletzt daran scheiterte einst der heroische Impetus der „Kolonie Zur Sonne“ („Brüder, zur Sonne, zur Freiheit…“). Das Revolutionsprojekt Sozialismus endete im Gemüse.
Das zu belächeln ist nicht besonders originell, und so wird eine dritte Folie über die ersten beiden gelegt: die der unerwarteten Begriffe mit naturwissenschaftlich-technischer Anmutung. Denken Sie sich die Wörter „Bildaufbereitung“ und „Entropie“ geschwärzt und die Aufgabe wäre, sie aus dem Kontext zu erraten – in hundert Jahren käme man nicht darauf. Entropie ist das Maß der Unordnung eines physikalischen Zustands. Die Verwendung dieses Begriffs macht die Laubenkolonie einen Lidschlag lang zum Ort der Wissenschaft, so als würden dort zu erforschende Kräfte freigesetzt. Aber die Entropie wird hier nicht gemessen, sondern ist eine „gefühlte“, und schon ist der Exaktheitsanspruch dahin. Vielmehr demonstriert der Erinnernde mit „Bildaufbereitung“ und „Entropie“, wie sehr er sich seines Abstands zu der ganz anderen, unmittelbaren Erfahrungsweise des Kindes bewusst ist. Er benutzt ein anderes Vokabular und weiß nur zu gut, was Ironie ist.
Und damit sind wir bei der vierten Folie, der literarischen Tradition. Die „Hauben“ erinnern an die der Spaßmacher bei Thomas Bernhard. Die „trunkene Luft“ ruft Benns „Trunkene Flut“ herbei (nie war mir bislang aufgefallen, dass „Luft“ und „Flut“ aus denselben Buchstaben bestehen…). Und „Freundschaft“, „Gebilde“, „Steigen“, „Sinken“, „Traum“, „Empor“ – das sind ja lauter Wortpilger aus klassischen und romantischen Zeiten, da die Natur der große, allen verständliche Seelenspiegel war.
So gleicht der Beginn des Gedichts einem nachhallenden Paukenschlag, mit Ausrufezeichen und ungescheutem Pathos. Goethes Mond rauscht den Himmel hinauf, schneller als in Echtzeit, um dann seitwärts zu gleiten in ruhiger, kaum wahrnehmbarer Abwärtsbahn. Ein hoher Ton wird angeschlagen, der in die intellektuelle Kühle der „Bildaufbereitung“ mündet und sich im „Garten“ erdet. Ein letzter Hüpfer: die „Entropie“. Danach: „Gemüsedunst“ und prosaische „Holzbank“. In dieser Umgebung hat das „Empor!“ keine wirkliche Chance.
Neunmal haucht und raunt das „au“ durch die Verse, vernetzt den Traum mit den Lauben, den Hauben und den Kosmonauten. Mit klarem Blick für die Wirkung sind die Folien übereinander gelegt; Sonne und Mond, Holzbank und Wolkenbank bilden die konträren Eckpunkte des Erfahrungsfeldes. Erzeugt wird aber nicht ein kalter Glanz, sondern ein anrührendes Bild, das die Schönheit des Gestirns und die Naivität der kindlichen „Studien“ sanft zusammenführt.
Gisela Trahms
Gedichte mit kritischer Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.
Zu Neuer Wort Schatz II (29): Adrian Kasnitz
Zu Neuer Wort Schatz II (27): Ulrike Almut Sandig
Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier
Das Gedicht ist erschienen in:
Steffen Popp: Kolonie Zur Sonne.
kookbooks Berlin 2008.
64 Seiten. gebunden im Schuber. 19,90 Euro.
Foto: Timm Kölln
| Steffen Popp im Poetenladen
| Steffen Popp liest Gedichte