Geschrieben am 3. Mai 2010 von für Hörbuch, Litmag

Peter Kurzeck: Da fährt mein Zug

Unhörbare Atemzüge

Das dunkle Cover dieses Hörbuchs zeigt einen menschenleeren, nächtlichen Bahnsteig. Auf der Rückseite behauptet ein Zitat: „Man muss solche Geschichten erzählen, sonst hält man es nicht aus.“ Wartet hier also Grässliches? Erschütterndes? Gisela Trahms geht mit Peter Kurzeck auf Reisen und findet es heraus …

Ein Erzähler wie Peter Kurzeck liest nicht vor, was er für alle Welt geschrieben hat, sondern erzählt aus dem Moment heraus und scheinbar nur für uns, als wäre er zu Besuch gekommen und säße in unserem schönsten Sessel. Es geht in Da fährt mein Zug um ein Missgeschick, das ihm vor einigen Jahren zustieß, als er häufig zu langen Aufenthalten nach Frankreich reiste. Gewöhnlich liefern solche Erlebnisse den Stoff für eine Anekdote von zwei Minuten.

Nicht so hier. Die Geschichte beansprucht nicht zwei, sondern 62 Minuten. Sie beginnt, stellt man sich vor, mit sanften, wenn auch unhörbaren Atemzügen – wie ein Sänger sich einsingen muss, muss wohl auch ein Erzähler sich einschwingen, um so leicht und frei und schwebend sprechen zu können wie Peter Kurzeck. Wenn dann die Stimme einsetzt, sagt sie nicht nur: „Damals war es so, dass es einen Nachtzug gab von Straßburg nach Avignon …“, sondern auch: Vergiss deine Ungeduld, Zuhörer. Lockere dein Ohr. Genieße. Und entspannt lehnen wir uns zurück und tun genau das.

Peter Kurzeck

Haben Sie schon einmal etwas Wichtiges verloren?

Nicht jedem passiert jede Geschichte, gab einst Thomas Mann zu bedenken. Und fügte hinzu, dass nur das Gründliche wahrhaft unterhaltend sei. Diesem Credo wird auch hier gehuldigt. Daher muss erst einmal geklärt werden, was es mit jenem Nachtzug auf sich hatte, inwiefern sich deutsche und französische Züge und Zuggewohnheiten unterscheiden, wie schön die Stadt Straßburg ist, warum Peter Kurzeck so oft nach Südfrankreich fuhr und womit seine Tochter ihn für diese Fahrten versah. Und wer ist er denn eigentlich, dieser Pendler zwischen den Städten und Ländern? Endlich ein Schriftsteller oder immer noch ein halber Bettler? Ein Liebender und Geliebter oder eher ein Weggefährte? Für solche Fragen ist der Bahnsteig der rechte Ort, besonders wenn der Zug mit dem eigenen Gepäck gerade davonrollt und nur das nackte Selbst zurücklässt.

Die Stimme zaubert. Glückliche Geschehnisse folgen auf unerfreuliche und umgekehrt, aber die Stimme behält ein schönes Gleichmaß. Denn Kurzeck beherrscht wie kaum ein anderer eine sehr seltene Kunst: die der Pointenlosigkeit. Er bauscht diese bescheidene Privatkatastrophe nicht auf. Ohne dass wir es recht bemerken, befreit er uns von eingefahrenen Erwartungen, indem er sie unterläuft. Nicht der übliche, temporeiche Spannungsbogen ist das Ziel, sondern dass jede Episode, jedes Detail, jede Figur den angemessenen Raum in der Geschichte erhält und gewürdigt wird. Dabei sind dann durchaus Überraschungen möglich. So fragt Kurzeck den Fahrer des Taxis, in dem er seinem Gepäck hinterher hastet, ob er schon einmal etwas Wichtiges verloren habe. Lange denkt der Mann nach. Dann sagt er: Nein. So ist es eben: Nicht jeder kann auf Befragen mittlere Dramen ausspucken. Vielleicht will der Taxifahrer auch einfach nichts ausspucken. Und so ist wieder eine Pointe dahin und eine Gelegenheit verstrichen, etwas vorgeblich Interessantes in die Geschichte hineinzuschmuggeln. Aber Interessantes im Sinne von Sensation interessiert hier nicht.

Dieses Hörbuch ist exzellent gemacht

Ein Erzählen in der Ebene ist das, als balanciere jemand sehr achtsam und mit einem genauen Blick für alles, was ihm begegnet, über ein auf dem Boden liegendes Seil. Und das Wunder ist eben, dass das kein bisschen langweilt, sondern fasziniert. Mit seinem opus magnum Ein Sommer, der bleibt hatte Peter Kurzeck vor zwei Jahren das mündliche Erzählen als Kunstform wiederbelebt. Auf vier CDs entwarf er da ein Kindheitspanorama aus Einzelskizzen und begeisterte Kritik und Publikum. Mit Da fährt mein Zug wagt er den Schritt von der Miniatur zur dicht gewebten, zusammenhängenden Geschichte. Es wäre unsinnig, die beiden Werke gegeneinander abzuwägen, sie gehören verschiedenen Gattungen an.

Sagen wir einfach, dass dieses Hörbuch exzellent gemacht ist und die Erzählung des Reisenden bezaubert und beglückt.

Gislea Trahms

Peter Kurzeck: Da fährt mein Zug.
Hörbuch. Gesprochen vom Autor.
supposé 2010. 1 CD. 62 Minuten. 16,80 Euro.