Geschrieben am 2. Dezember 2016 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Primärtext: Achim Stanislawski: Die neuen Fabelwesen. Von Forentrollen, Sexpuppen und Klonkriegern

stanislawski_fabelwesen_240Achim Stanislawski: Die neuen Fabelwesen

Auch im Dezember präsentiert CulturMag einen Primärtext. Es ist der erste Essay aus Achim Stanislawskis Band »Die Neuen Fabelwesen. Von Forentrollen, Sexpuppen und Klonkriegern«, der nächste Woche bei CulturBooks erscheinen wird.

1967 veröffentlichte Jorge Luis Borges sein «Buch der imaginären Wesen«, für das er vom Doppelgänger bis zum Kentauren eine Aufstellung der wichtigsten Fabelwesen aller Kulturkreise zusammentrug. Das Buch des universell belesenen Autors wurde sofort zu einem Meilenstein für die etwas in Vergessenheit geratene Wissenschaft der Parazoologie, also jenes Zweigs der imaginären Zoologie, der sich mit der Erforschung von Fabelwesen beschäftigt.

Doch so vielseitig Borges’ Buch auch war, so konnte es bei leibe nicht alle relevanten imaginären Wesen berücksichtigen. Diese Lücke schließt nun das Periodikum »Die Neuen Fabelwesen«. Es versammelt Texte um jüngst entdeckte Wesen wie den Forentroll, den Klonkrieger, die Cyborg, die Sexpuppe oder den Babelfisch.

Denn Fabelwesen leben mitten unter uns. Achim Stanislawski erzählt uns alles über sie, auch Dinge, nach denen wir zu fragen uns nie getraut hätten.  Sein Buch ist ein spannender Wegweiser durch die Mythen unseres Alltags.

Alle Macht der Phantasie!

Neue Fabelwesen: Odradek oder: Das lebendige Gerümpel

odradekTaxonomie:

  • Erstsichtung: Von Franz Kafka in »Die Sorge des Hausvaters«
  • Physische Charakteristika: Eine alte Spule mit Faden oder Stofffetzen, seitlich ist ein Eisenstäbchen angewachsen
  • Herkunft: Ungeklärt, wahrscheinlich Urzeugung aus Zivilisationsabfällen
  • Familie: Lebendige Gegenstände
  • Unterarten: Keine bekannten
  • Habitat: Dachböden, Flure, Keller und andere Zwischenräume
  • Verhalten: Odradek lebt zwar in Großstädten, scheint sich aber um die Menschen nicht weiter zu bekümmern. Begegnungen sind stets flüchtig. Über sein Verhalten ist fast nichts bekannt.
  • Intelligenz: Schwer einzuschätzen, vermutlich größer, als es den Anschein hat.
  • Macht: Sehr gering, jedoch oft Ursache von Irritation und Zweifel an den eigenen Augen,
  • Sichtungswahrscheinlichkeit: Nur für das geschulte Auge. Er lässt sich auch nicht auflauern, sondern kann nur zufällig und im Vorbeigehen entdeckt werden.

Ausführliche Klassifizierung:

Wer in einem alten Herrenhaus – vorzugsweise in Prag, Wien oder Ljubljana – lebt, hat vielleicht auch schon einmal im Hausflur, auf dem Dachboden oder im Keller eine sehr eigenartige Begegnung mit einem kleinen Wesen gehabt, das aus einem unerfindlichen Grund Odradek heißt. Nur ein sehr aufmerksamer Beobachter wird mit Sicherheit bestimmen können, ob er wirklich eines der seltenen Odradeks gesehen hat, denn sie bewegen sich flink und halten sich bevorzugt im Halbschatten und Dämmerlicht auf. Meist warten sie, bis das Flurlicht erlischt, um dann, mit ungeahnt behänden Trippelschritten, schnell über die Treppen und Geländer zu huschen. Welches Ansinnen sie dabei verfolgen, bleibt unklar.

Denn dieser Odradek, allem Anschein nach ist es zumindest grammatikalisch männlichen Geschlechts, ist ein scheuer Geselle. Er kann sprechen, tut dies aber nur äußerst selten.

Ohnehin hat sich bisher wohl kaum einer Handvoll Menschen die Gelegenheit geboten, sich länger mit einem Odradek zu unterhalten. Zum ersten Mal beschrieben wurde er von Franz Kafka in seiner Geschichte »Die Sorge des Hausvaters«.

Odradek – woher das Wort stammt, ob nun aus dem Slawischen oder doch aus dem Deutschen, das wisse man nicht, schreibt Franz Kafka[1] –; dieser merkwürdige Odradek ist ein aus scheinbar unvereinbaren Teilen zusammengesetztes Ding:

Aus der Mitte einer alten, mit Zwirn bezogenen Spule lugt ein kleines Füßchen aus Metall, mit dem »das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen« kann. Wie sein Name, der in keiner Sprache einen eindeutigen Sinn hat, ist auch sein Körper, wenn man hier von einem Körper sprechen kann, ein nach menschlichen Maßstäben völlig paradoxes und unnützes Gefüge aus Krempel.

Doch noch mysteriöser als die Herkunft seines Namens und noch ominöser und eigentümlicher als seine merkwürdige Zusammensetzung ist das Eigenleben, das dieser Odradek führt.

Als ein lebendiges Gerümpel, ein kleines Ding, das sich aus den Splittern, den Resten und dem Unrat der menschlichen Zivilisation irgendwie selbst zusammengesetzt und einen Willen in sich gefunden hat, führt er ein Leben in den von den Menschen wenig beachteten Zwischen- und Durchgangsräumen. Die vernachlässigten Ecken und die schummrigen Durchgänge unserer zersiedelten Welt sind sein natürliches Habitat.

Weil »Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist«, lässt sich unmöglich sagen, ob jedes Haus und jeder Wohnblock seinen eigenen Odradek hat. Es kann nämlich sehr gut sein, dass Odradek nur in bestimmten älteren, eher ärmlichen Häusern, vornehmlich aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg wohnt. Noch nie wurde ein Odradek in einem modernen Bungalow oder einer Villa gesichtet. Ob dies nun an dem dort gewöhnlich wohnenden Menschenschlag oder der Quantität an altem Moder und Gerümpel liegt, lässt sich ebenfalls nicht entscheiden.

Kafkas Beschreibung deutet aber darauf hin, dass Odradek nur wenig Interesse an den Hausbewohnern selbst hat.

Denn kommt nun doch einmal ein Gespräch zustande, antwortet er ausweichend und sehr unbestimmt. Dann lacht er mit einem Lachen, das so klingt, als würde einer wie ohne Lunge lachen: Es raschelt wie ein Stoß gefallenes Laub. Meistens schweigt er jedoch, »wie das Holz, das er zu sein scheint«.

Dieser Odradek hat für den Hausvater, der aufmerksam genug ist, um ihn, wenn er von einem langen Tag ermüdet in seine kleine Wohnung zu den knarrenden Dielen und dem Bollern des Ofens hinaufsteigt, im Halbschatten der Stiegen auszumachen, etwas Besorgniserregendes.

Nicht weil er gefährlich wäre; ist er doch so klein, dass der Hausvater ganz unwillkürlich zu ihm wie zu einem Kind spricht. Aber trotzdem hat dieser unbeteiligte, um den Hausvater so unbekümmerte Odradek etwas an sich, was ihm Sorgen macht. Etwas geschieht in seinem Haus, über das er sich selbst keine Erklärung geben kann. Zugegeben, es ist nichts Dramatisches dabei, wenn ein Odradek kurz auftaucht, um gleich wieder zu verschwinden. Er ist kein außerweltlicher Parasit, keiner der einem die Milchflaschen umwirft oder die Kinder aus dem Bettchen klaut. Und dennoch ruft er ein Unbehagen hervor. Ist etwas an ihm, das ihn zum Störenfried macht.

Das Geheimnis dieser leisen Angst, die Odradek dem Hausvater einflößt, muss in seiner unbestimmten Herkunft liegen.

fabelwesen_2Junger Odradek einer noch nicht bestimmten Untergattung, den ich vor einigen Tagen in meinem Hausflur traf.

Wenn der Hausvater belesen ist – und davon ist auszugehen, denn wenn er noch nie den Text von Kafka gelesen hätte, könnte er den Odradek unmöglich bemerken –, dann hat er seinen Kindern vielleicht schon die Märchen von Hans Christian Andersen vorgelesen, in denen in magischen Nächten die Töpfe, Pfannen, Kannen und Tassen zum Leben erwachen und in der Küche herumtanzen. Wenn er darüber hinaus auch etwas auf seine klassische Bildung hält, kann er sich unter Umständen auch noch an die Dreifüße und Schemel des Hephaistos erinnern, von denen es in der Ilias heißt, sie wären lebendig und verrichteten ihren Dienst an der Tafel der Götter ganz von selbst.

Er kennt sich also aus, mit lebendigen Dingen in den Märchen: Wunschvorstellungen einer alten Zeit, die von Handarbeit, Mühsal und Aberglauben geprägt war.

Aber bei Odradek ist die ganze Sache doch etwas anders gelagert. Denn Odradek ist ein eigenständiges Ding. Kein Werkzeug, das in der Fantasie seiner Herren die Arbeit von selbst errichtet, sondern ein schiefes, verbogenes, nach menschlichem Maßstab falsch zusammengesetztes Gerümpel mit einem eigenen (unsichtbaren) Kopf. Odradek verweigert sich jeder Sinnzuschreibung: Weder wurde er von einem Menschen gefertigt, um im Haushalt bei einer bestimmten Tätigkeit von Nutzen zu sein, noch ist er die Ausgeburt der schwärmerischen Einbildungskraft der Mythen, die Elfen, Kobolde und Zwerge dort vermutete, wo man sich die Natur und ihrer Gesetze nicht erklären konnte. Anders als die Fabelwesen der Kinderbücher, Volksmärchen und vergangener Kosmologien, übernimmt Odradek keine sinnvolle Aufgabe im Kosmos.

Eine etymologische Erklärung seines Namens ist unmöglich, weil Odradek weder im Deutschen noch im Slawischen auf eine alte Vorstellung oder vergessene Redensart zurückgeht. Vielmehr ist er, die eklektisch zusammengefügten Teile seines Körpers zeigen es an, ein Geschöpf, das erst vor kurzem entstanden sein muss – und zwar durch eine ihm eigene Art der Urzeugung: Er hat sich spontan zusammengesetzt und in dem Plunder, der er ist, Leben gefunden.

Und das ist es, was dem Hausvater so große Sorgen bereitet. Odradek ist eine NEUE Art von Fabelwesen. Eines das in der Moderne entstanden ist, über dessen Herkunft und Sinn es aber trotzdem keine Anhaltspunkte gibt. Eine paradoxe Figur, für die der Mensch keinen Nutzen hat. Wir können ihm nicht nachspüren. Odradek erklärt nichts, nicht einmal er selbst lässt sich begreifen. Und Odradek entzieht sich radikal dem Einfluss des Hausvaters, der es gern hätte, dass alle Dinge zwischen Himmel und Erde ihm zuliebe geschaffen sind. Denn alles Lebendige, so meint er, muss doch in irgendeiner Form zu etwas nütze sein:

»Kann er den sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben, das trifft auf Odradek nicht zu.« So heißt es bei Kafka.

Odradek hätte sicherlich über diese irre Idee lachen müssen, hätte der Hausvater ihn mit diesem Gedanken konfrontiert. Was glaubt der Mensch immer noch, er wäre Herr über die Dinge oder auch nur über seine eigene Einbildungskraft? Die Dinge haben ein eigenes Leben, von dem der Mensch, der meint sie lediglich zu benutzen, sich oft selbst keine Vorstellung macht. Und dieses Odradek ist der Prototyp der NEUEN Fabelwesen, die nicht aus dem Aberglauben längst vergangener Zeiten stammen, sondern aus den Büchern, Philosophien und wilden Hirnen der Moderne. Aus Gedankenmüll geboren, lebt er in den schlecht ausgeleuchteten Zwischenräumen unserer kollektiven Imagination. Für diejenigen, die diese zwecklosen Flecken vergessen machen wollen, bleibt er ein Hirngespinst, ein Phantom für die Träumer.

Doch jeder, der selbst einmal ein Odradek gesehen hat, weiß sofort, liebe LeserInnen, diese kleine lokale Gottheit der Stiegen und Dachböden, das ist Dein armes, kaputtes Seelchen selbst.

Weitere Fabelwesen finden Sie hier:

Achim Stanislawski: Die neuen Fabelwesen. Von Forentrollen, Sexpuppen und Klonkriegern. Ein modernes Parazoologikon. Digitale Originalausgabe. CulturBooks Album, November 2016. Circa 140 Seiten. 6,99 Euro. ISBN 9-783-95988-045-9. Zum Buch.

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