Geschrieben am 21. Juli 2018 von für Litmag, Primärtext, ReiseMag 2018

Reiselust & Primärtext: Mary Shelley

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Streifzüge durch Deutschland und Italien

vorgeschlagen von Lothar Wekel, Verleger – mit seinen Reiseverlagen Corso und Edition Erdmann nebenan porträtiert von Alf Mayer in diesem ReiseMag.

Die beiden üppig illustrierten Corso-Bände mit Mary Shelleys Streifzügen durch Deutschland und Italien sind in jeder Hinsicht ein Genuss. Als „Rambles in Germany and Italy“ erstmals 1844 veröffentlicht, waren sie das letzte erschienene Werk der Autorin von „Frankenstein, or The Modern Prometheus“ (1818). Die in einem literarisch geprägten Umfeld aufgewachsene Tochter des Schriftstellers William Godwin und der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft hatte Zeit ihres Lebens mit schweren Schicksalsschlägen zu kämpfen, etwa dem frühen Tod ihres Mannes und dreier Kinder. Respekt vor etablierten gesellschaftlichen Konventionen war ihr fremd. Als politisch wache Frau reist sie durch Frankreich, Belgien, Deutschland, Tschechien, Österreich, die Schweiz und Italien, hält ihre Abenteuer und Eindrücke akribisch fest. Landschaften, Politik, die sich verändernde Gesellschaft, Geschichte, Literatur, Kunst sowie Sitten und Gebräuche sind die Themen ihrer lebendigen Schilderungen. Nie hält sie mit ihrer Meinung hinter dem Berg. Sie äußert – für eine Frau ihrer Zeit ungewöhnlich – politische Ansichten neben ihren sehr persönlichen Eindrücken.

Ich spüre, wie die Zigeunerin in mir zum Leben erwacht, jetzt, da ich Paris verlasse. Ich sage allem Bekannten Adieu und mache mich auf den Weg zu neuen Ufern, umgeben von Begleitern, die die Welt noch nicht kennen, keine Erfahrung mit ihren Kümmernissen haben und jedes flüchtige Vergnügen in vollen Zügen genießen. Ich selbst neige dazu, zu ernst zu sein, lasse mich aber leicht von der Stimmung meiner Umgebung anstecken. So vergesse ich die Vergangenheit und die Zukunft und bin ebenso bereit wie sie – wenn nicht noch mehr –, alles, was ich sehe, unterhaltsam zu finden.

MARRY SHELLEY_BAND EINS.indd(…) Der Rheinfall ist in viele Ströme gespalten, deren Verzweigungen die ganze Breite des Flusses einnehmen; ihr Brausen ist nicht so überwältigend, aber sie ergießen sich über viele Felsen und hüllen diese in einen Schleier aus durchsichtigen Wellen und schäumender Gischt.

Welche Worte können die Empfindungen beschreiben – denn in der Tat sind viele Gedanken und Gefühle nicht in Worte zu fassen –, die der Tumult weckte, das Tosen und die beispiellose Schönheit eines Wasserfalls mit seinem ewigen, sich ständig ändernden Schleier aus nebligem Schaum? Das Wissen um seinen endlosen Strom, den es schon gab, bevor wir geboren wurden und der auch noch da sein wird, wenn unzählige Generationen ins Grab gesunken sind – seine Kraft zu spüren, die uns in Atome zerschmettern könnte, ohne dass sich sein Klang ändern würde, die seine Umgebung erzittern lässt, auch wenn wir aus sicherer Entfernung zuschauen, das Leuchten seiner Farben, die Melodie seines Donnergrollens – können diese Worte den Eindruck beschreiben, den der Geist hat, wenn die Wahrnehmung der Augen und Ohren nur allzu beschränkt ist? Nein! Denn ebenso, wie ein Gemälde keine Fortbewegung abbilden kann, sind Worte ungeeignet, seelische Bewegung auszudrücken. Sie wühlt – wie Leidenschaft – die Tiefen unseres Daseins auf; wie die Liebe, die mit Ruin verbunden, aber glücklich über ihren Besitz ist, füllt sie die Seele mit einer Mischung aus Aufregung und Ruhe.

(…) Wir wurden zur Albergo Grande della Cadenabbia gebracht, ein großer, schmaler, recht gut aussehender Hotelwirt mit blondem Schnurrbart empfing uns überschwänglich – und da sind wir nun. Seltsamerweise herrscht Missmut unter uns. Das Wetter ist scheußlich, der See vom Sturm gepeitscht und – noch seltsamer – wir haben die Berge satt. Obwohl ich Flachland unerträglich finde, steht mir der Sinn nach niedrigeren Hügeln und einem größeren Stück Himmel – der Blick sehnt sich nach Weite. Ich dachte daran, welche Erleichterung es für das Auge gewesen war, als es nach der schmalen Schlucht, in der sich die Bäder von Lucca befinden, die Ebenen der Lombardei sehen durfte, auf die wir von unserer Villa in den Euganeischen Hügeln Aussicht hatten. Aber das war nicht das Einzige, was uns traurig und unzufrieden stimmte. Dieses Gefühl überkommt Reisende oft, wenn ihr Weg vorläufig zu Ende ist und das Ende nicht das Zuhause ist. Es wird sich morgen in Nichts auflösen. Um diese schmerzlichen Eindrücke abzuschütteln, habe ich diesen Brief geschrieben. Und nun ist es Nacht, der Himmel ist dunkel, die Wellen brechen sich immer noch am Ufer. Ich bete, dass mir hier von diesem gefährlichen Element kein Unheil drohen möge, und sage gute Nacht – Dir, mir und der Welt. Leb wohl.

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Mary Shelley, gemalt von Richard Rothwell – Wiki Commons

(…) Auch beim tausendsten Mal ist es für Engländer ein seltsames Gefühl, wenn sie an einem fremden Ufer an Land gehen und feststellen, dass sich alles Bekannte auf frappierende Weise verändert hat, aber trotzdem noch schön ist. Ich habe eine echte Leidenschaft für das Reisen. Außerdem bin ich bei schlechter Gesundheit und kann meine gewohnten Pflichten nicht mehr erfüllen. Reisen ist sowohl Beschäftigung als auch Unterhaltung und ich glaube fest daran, dass häufige Ortswechsel meiner Gesundheit zugutekommen werden.

Und außerdem – was könnte herrlicher sein, als immer wieder Neues zu erleben, als der unerschöpfliche Strom neuer Ideen, die einem auf Reisen kommen? Wir lesen, um uns Gedanken und Wissen anzueignen; Reisen ist ein Buch, das der Schöpfer selbst geschrieben hat, und es enthält höhere Weisheit als das gedruckte Wort des Menschen. Wenn ich zwangsweise im Exil wäre, würde ich vielleicht murren, denn das Herz sehnt sich natürlich nach der Heimat. Aber das Zuhause mit Erinnerungen zu schmücken, wie eine Biene den Stock zu verlassen und auszuschwärmen, um mit dem Honig der Reisen zurückzukehren – mit Szenen, die das Auge nie vergisst – mit wilden Abenteuern, die die Fantasie beflügeln – mit Wissen, das den Geist erleuchtet und ihn von hartnäckigen, tödlichen Vorurteilen befreit – mit größerem Verständ- nis für unsere Mitmenschen –, das sind die Segnungen des Reisens. Ich bin überzeugt, dass sie jeden besser und glücklicher machen.

 

Mary Shelley: Streifzüge durch Deutschland und Italien. In den Jahren 1840, 1842 und 1843. Band 1 und Band 2. Übersetzt von Nadine Erler, mit einem Nachwort von Rebekka Rohleder. Corso im Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2017 und 2018. 254 und 256 S., je durchgängig 4-farbig illustriert, je 24 Euro.

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Die Reisen von Mary Shelley und ihrem Sohn Florence Shelley 1840 und 1842-1843; aus The Novels and Selected Works of Mary Shelley. Vol. 8., London: William Pickering, 1996,S. 58-59. Die roten Punkte zeigen die Reise von 1840 an, die grünen Punkte den Trip von 1842-43. (Quelle: Wiki Commons RamblesMap.png: Awadewit)

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