Geschrieben am 21. Juli 2018 von für Litmag, ReiseMag 2018

Reiselust & Primärtext: Lady Travellers

N.N. : Elektrisches Leuchtfeuer, Helgoland

 

Gertrude Bell, Vita Sackville-West, Mary Henrietta Kingsley, Freya Stark, Maud Parrish, Alexandra David-Néel: LADY TRAVELLERS

Vorgeschlagen von Anna Schloss, Verlagslektorin beim Verlagshaus Römerweg und Herausgeberin diverser Lyrik- und Prosaanthologien, u. a. zu Ödön von Horvath, Henry David Thoreau, Anton Tschechow.


Gertrude Bell (1868 – 1926)

… wie die Eisenringe zerspringen, die um dein Herz geschmiedet waren

Wer in einem komplizierten sozialen Gefüge aufgewachsen ist, erlebt selten einen Moment solch überschwänglicher Freude wie am Beginn einer kühnen Reise. Die Pforte des ummauerten Gartens springt auf, die Kette am Eingang zum geschützten Raum wird heruntergelassen, unsicher blickt man nach rechts und links, wagt den Schritt über die Schwelle und da ist sie: die unermessliche Welt. Eine Welt des Abenteuers und der Wagnisse, verdunkelt von tobenden Stürmen, gleißend in grellem Sonnenlicht, in jeder Senke eines jeden Berges Cover_Reiseschriftstellerinnen.inddlauern offene Fragen und nicht zu stillende Zweifel. In diese Welt musst du allein eintreten, ohne die Freunde, die in Rosengärten wandeln, du musst den Purpur und das feine Leinen ablegen, die den Arm beim Kampf behindern, du bist ohne Dach, ohne Schutz, ohne Besitztümer. Statt der Stimme des klugen Beraters spricht die Stimme des Windes; das Peitschen des Regens und das Beißen des Frostes werden dir ein schärferer Ansporn sein als Lob und Tadel, die Erfordernisse des Augenblicks sprechen mit einer Autorität, die allen wohlfeilen Weisheiten fehlt, die der Mensch nach Gutdünken annimmt oder verwirft. So also verlässt du die Abgeschiedenheit und kaum hast du den Pfad betreten, der das Rund der Erde umläuft, spürst du, wie der Held im Märchen, die Eisenringe zerspringen, die um dein Herz geschmiedet waren.

Das Raunen und Tuscheln der Wüste. Eine Reise durch das alte Syrien. Übersetzt und mit einem Vorwort von Ebba D. Drolshagen. Edition Erdmann, Wiesbaden 2015. 312 S., 24 Euro.

 

Vita Sackville-West (1892 – 1962)

Der Geist will Neues erforschen, andere Ufer sehen

Derart ausgerüstet und so selbstgenügsam wie eine Schnecke, macht der englische Reisende das Beste aus den zwei Stunden, die er braucht, um von London nach Dover zu kommen. Er schaut hinaus über die Felder, die sich bald, auf der anderen Seite des Kanals, in die heckenlosen Weiten Nordfrankreichs verwandeln werden. Mir ist diese Strecke nur allzu vertraut, führt sie doch durch meine heimatlichen Felder, an meinem Bahnhof vorbei, und es regt sich eine seltsame Mischung in mir. Im Herzen spüre ich ein wehmütiges Ziehen, und um dagegen anzugehen, erinnere ich mich daran, wie oft ich diesen Zug durch den Bahnhof rollen sah und eine andere Art von Wehmut verspürte, während die Aufschrift »Continental Boat Express« an mir vorüberrauschte. Es war der Wunsch, weit fort zu sein, der Neid auf die Reisenden hinter den Fenstern des Zuges. Aber diese Wehmut hatte nicht das Herz, sondern den ruhelosen Geist angesprochen. Es ist unser Zuhause, das uns zu Herzen geht; das Unbekannte winkt unserer geistigen Rastlosigkeit zu. Das Herz möchte in der vertrauten Sicherheit verharren, aber der Geist lässt nicht locker, will Neues erforschen, andere Ufer sehen. All die bekannten Landmarken fliegen an mir vorbei: In der Nähe von Orpington die beiden Fabrikkolben, die dort unablässig auf- und niederstampfen; der eine ist noch nicht ganz oben, da beginnt der andere schon zu fallen; schon als Kind haben mich diese Kolben zur Verzweiflung gebracht, weil ich sie nicht dazu bringen REISE_SACKVILLE-WEST_SU.inddkonnte, im Gleichklang zu arbeiten, obwohl sie doch Seite an Seite stehen. Ich weiß, dass ich mitten in Asien an sie denken und sie bei meiner Rückkehr Wiedersehen werde, unverändert, immer ein kleines bisschen aus dem Takt. Dann kommt mein Heimatbahnhof, dann Yew Tree Cottage und schließlich der Pfad, der quer über die Felder führt. Würde ich, wenn ich es könnte, aus dem Zug springen und über den Pfad nach Hause laufen? Über mir baumelt das orangefarbene Schild: PERSIEN. In einer halben Stunde könnte ich zu Hause sein; mein Spaniel käme mir erstaunt entgegengelaufen … Doch inzwischen hat mich der Zug schon in einen weniger vertrauten Landstrich getragen, vorbei an den heimatlichen Wäldern, an deren Rändern Orchideen wachsen. Ich frage mich, ob die Gegenstände in meinem Gepäck einen ähnlichen Sog verspüren, auf die Anziehungskraft reagieren wie die Kompassnadel auf den nördlichen Pol?

Doch schon beginnt all das zu schwinden: mein Zuhause, meine Freunde. Ein angenehmes Gefühl der Überlegenheit legt sich wie eine wärmende Decke über die nachhängende Abschiedsmelancholie. Eine kleine Willensanstrengung, und schon habe ich mich in eine andere Stimmung gerettet, in die gefährliche Lust auf das Erobern der Welt. Wie berauschend es doch ist, so selbstgenügsam zu sein, im eigenen Glück nicht auf materielle Bequemlichkeiten angewiesen; alle Sentimentalitäten wie die Bindung an das Vertraute hinter sich zu lassen; offen zu sein, verletzlich, aufnahmefähig! Falls irgendwo in mir doch noch ein wenig Trauer schlummert, bin ich wild entschlossen, sie zu ignorieren. Das Leben ist so voll von Reichtümern; wie töricht, sich an einer Stimmung festzuklammern.

Bombay, Bagdad, Teheran. Meine Reise nach Persien. Übersetzt von Irmela Erckenbrecht, mit einem Vorwort von Susanne Gretter. Edition Erdmann im Verlagshaus Römerweg. Wiesbaden 2016. 192 S., 18 Euro.

 

978-3-86539-861-1Mary Henrietta Kingsley (1862 – 1900)

Ich schlug einen Atlas auf …

Im Jahr 1893 gab es zum ersten Mal in meinem Leben fünf oder sechs Monate, die nicht bereits im Vorfeld völlig verplant waren. Mich wie ein Junge mit einer frisch geprägten Half Crown fühlend, rang ich mit mir, was mit jener Zeit anzustellen sei. »Geh und lerne die Tropen kennen«, riet die Wissenschaftlerin in mir. »Und wo soll ich hin?«, fragte ich mich, denn die Tropen sind überall Tropen, aber nicht überall gleich. Ich schlug einen Atlas auf und erkannte, dass Südamerika oder Westafrika mein Ziel sein musste, weil die Malaiische Halbinsel zu abgelegen und zu teuer ist. Dann nahm ich „Die Geographische Verbreitung der Thiere“ von Wallace zur Hand, und nach der Lektüre seines meisterhaften Artikels zu Äthiopien fasste ich mir ein Herz und entschied mich für Westafrika. Der Entschluss fiel mir leicht, denn obwohl ich nichts über die praktischen Probleme wusste, wusste ich durch Überlieferung und Erzählungen eine Menge über Südost-Amerika. So erinnerte ich mich, dass Gelbfieber dort weit verbreitet war und ein bekannter, mir körperlich und mental überlegener Naturforscher beinahe verhungert wäre, als er mit einer deprimierenden Expedition, die nach und nach an Mangel und diversen Fiebern zugrunde ging, die Panamaregion bereiste. Meine Unkenntnis betreffend Westafrika endete rasch. Und obwohl die große Leere, die jener Weltteil in meinem Kopf einnahm, bis heute nicht einmal zur Hälfte gefüllt ist, lassen sich dort doch eine Menge sehr ausgefallener Informationen finden. Ich benutze das Wort »ausgefallen« mit Bedacht, denn ich fürchte, manch einer missverstand meine Bitte um praktische Tipps und Ratschläge als Aufforderung, herauszustellen, welch vielfältigen Arten von Unbill man dort begegnen könne. […] Obwohl mein Verstand mit all diesen Aussagen beschäftigt war, legte sich mein Herz unaufhaltsam auf diese Reise fest und ich musste ihm folgen. […]

Reisen in Westafrika. Durch Franzsösisch-Kongo, Corisco und Kamerun. Neu übersetzt von Niels-Arne Münch, mit einem Vorwort von Magdalena Köster. Edition Erdmann, 7. Auflage, Juni 2018. 480 Seiten, 24 Euro.

 

STARK_AUF DER WEIHRAUCHSTRASSE_SU.inddFreya Stark (1893 – 1993)

Zusammenspiel von Zufall und Gesetz

Das richtige Reisedasein hatte begonnen, wechselvoll in seinen kleinen Zwischenfällen, unveränderlich in seinen Grundzügen. Dieses Zusammenspiel von Zufall und Gesetz, bei dem die Überraschungen eines jeden Tages sich in ein feststehendes Schema physischer Notwendigkeiten fügen, nach den gleichen zwingenden Regeln, die schon seit Jahrhunderten gelten – dies ist sicherlich der eigentliche Zauber des Reisens unter freiem Himmel. Und wenn unsere Fortbewegungsmöglichkeiten so vollkommen sein werden, dass unsere Reisen zu Lande und zu Wasser und in der Luft nicht mehr durch physische Gesetze bestimmt sind, dann werden wir unserem Planeten entwachsen sein, und jenes köstliche Gefühl des Einsseins mit Tieren und Pflanzen und Steinen, des Einsseins unter dem Walten des gleichen Zwanges, wird für immer geschwunden sein.

 Auf der Weihrauchstraße. Eine Reise durch das südliche Arabien. Übersetzt von Hans Reisiger, mit einem Nachwort von Susanne Gretter. Edition Erdmann, Wiesbaden 2017. 384 S., 24 Euro.

 

Maud Parrish (1882 – 1952)

Zuhause sitzen, nur weil ich zufällig ein Mädchen war?

»Hören Sie, junger Mann«, sagte ich zu dem Reporter, »ich lebe, wie es mir gefällt. Bei mir hat es nie eine Ordnung gegeben und mein Leben lässt sich in keine Kolumne packen.«

Das war vor ein paar Jahren. Und ich habe es ernst gemeint. Ich hatte nie vor, ein Buch zu schreiben, und wenn wohlmeinende Bekannte irgendwo auf der Welt dies vorschlugen, weil ich ihnen eine scheinbar interessante Geschichte erzählte, tat ich den Vorschlag stets als Scherz ab.

REISE_PARRISH_SU.inddIch lachte in mich hinein und dachte: »Wenn ihr nur die Hälfte wüsstet.« Denn im Leben eines Reisenden gibt es mehr als nur Sehenswürdigkeiten. Bücher voller Kummer und Elend, oder zu vieler »Ichs«, mochte ich noch nie und ich glaubte nicht, dass es in meinem Leben vieles gab, das außer mir auch noch andere interessieren würde. Man kann nicht herumfahren, wie es einem passt, ohne für »wunderlich« oder zumindest unkonventionell gehalten zu werden. Und mit Ausnahme von zwei oder drei »verbotenen« Orten, war ich überall.

(…) In meiner Familie gibt es seit Generationen Vagabunden und Abenteurer. Ich weiß nicht, wie es dem ein oder anderen am Ende ergangen ist. Sie zogen los, um etwas zu erleben. Einer meiner Großväter starb noch vor meiner Geburt in Indien. Andere kamen nach Amerika, als es noch neu war. Wenn es allmählich friedlicher zuging, zog jede Generation ein Stück weiter nach Westen. Meine Mutter wurde in einem kalifornischen Goldgräberlager geboren. Mein Vater nahm mit sechzehn aus Ohio Reißaus. Nach der Feier zur Fertigstellung der First Transcontinental Railroad in Utah zog er nach Kalifornien. Er arbeitete in Minen und Holzfällerlagern. Später verdiente er in Trinity County, im Norden des Staats viel Geld mit Holz. Als ich 1878 in San Francisco geboren wurde, war er noch immer im Holzgeschäft. Da San Francisco an der Westküste liegt, gab es im Westen kein Land mehr, in das man hätte ziehen können. Aber wieso hätte durch meine Adern anderes Blut fließen sollen, nur weil ich zufällig ein Mädchen war? Hätte ich mit gefalteten Händen ruhig zu Hause sitzen sollen?

 Mit leichtem Gepäck. Siebzehn Mal um Die Welt.  Übersetzt von  Conny Lösch, herausgegeben von Susanne Gretter. Edition Erdmann, Wiesbaden 2016. 360 S., 24 Euro.

 

COVER_Alexandra David-Neel_Wanderin mit dem Wind_NEU.inddAlexandra David-Néel (1866 – 1969)

Ich bin zwar abgehärtet, neulich aber glaubte ich, sterben zu müssen…

… Morgen werde ich dem Dalai Lama vorgestellt; das ist natürlich ein Ereignis für mich, denn vom »Papst« Asiens empfangen zu werden, ist für eine Europäerin noch viel weniger alltäglich, als im Vatikan empfangen zu werden Auch für ihn ist es ein Ereignis, denn ich bin die erste Frau aus dem Abendland, die zu empfangen er eingewilligt hat. Wie bei den Römern wurde deshalb auch ein besonderer Tag und ein günstiges Datum ausgewählt. Ich habe eine Reihe von Fragen vorbereitet, die ich an ihn richten will. Was für einen Menschen werde ich vorfinden? Man hat bei mir vorfühlen lassen, ob ich als Europäerin Wert darauf lege, auf einem Stuhl zu sitzen, oder ob ich mich als Buddhistin, wie in Asien üblich, auf einem Kissen auf dem Teppich niederlassen will. Ich sagte, solche Einzelheiten kümmerten mich nicht, ich sei viel mehr gekommen, um so viel wie möglich über den Lamaismus zu erfahren, und da der Premierminister sich auf den Teppich setze, fühlte ich mich überhaupt nicht gedemütigt, mich ebenfalls nach Landessitte dort niederzusetzen. 
(…) Ich steige jetzt wieder aus den Wolken hernieder, mein Lieber. Ich habe den Himalaja von Süden nach Norden ganz durchquert, fast in gerader Linie von Indien nach Tibet. Ich bin in mehr als 5000 m Höhe hinaufgeklettert, und dennoch wäre es übertrieben, ein solches Unternehmen als schwierig zu bezeichnen. Man muss lediglich kerngesund sein und über genügend Geld verfügen, um die – übrigens bescheidenen – Reisekosten zu bestreiten. Andererseits würde ich die Unwahrheit sagen, wenn ich behauptete, dass es sich dabei um einen einfachen Spaziergang, wie ihn jedermann unternehmen könnte, handelt Nein, es ist gewiss kein Kinderspiel, auf Wegen ganz besonderer Art nach Hochsikkim zu reiten, anschließend in den Tälern an der Grenze zu zelten und in dieser beträchtlichen Höhe dem Wind der tibetischen Hochebenen zu trotzen. Ich bin zwar abgehärtet, neulich aber glaubte ich, sterben zu müssen. Es war an dem Tage, als ich den nach Gjangtse weiterziehenden Maharadscha verlassen hatte; bereits lange vor meinen Trägern und Zelten war ich am Etappenziel angekommen und musste drei Stunden ungeschützt in eisigen Windböen und pausenlosem Schneetreiben warten. Mein Koch meldete sich krank, als er eintraf; erst viel später bekam ich etwas heißen Tee. Die Nacht verbrachte ich selbstverständlich ohne Feuer; zu allem Übel war mein Zelt nicht recht dicht. Am Morgen lag ein dicker Schneeteppich über dem Tal und bedeckte auch das Zelt. Ich konnte mich nicht rühren, atmete schwer und hörte ein leises Pfeifen in der Brust, was mir kein gutes Zeichen zu sein schien. Ich sagte mir: »Da hast du nun eine Lungenentzündung oder eine Angina Bei dieser Kälte und ohne Pflege wirst du nicht lange durchhalten.« Ich überlegte einen Augenblick und fand dann, dass es – inmitten der majestätischen Einsamkeit und auf einer Reise wie der meinen – letztlich ein schöner Tod wäre und ich der Sache nur die beste Seite abgewinnen müsste. Dies gelang mir denn auch relativ leicht. Ich erhob mich mit großer Mühe und dachte an den Brief, den ich dir schreiben wollte. Du wirst lachen, aber ich glaubte, du würdest vielleicht gerne den Ort kennen lernen, wo du eine Frau meines Schlages verloren hättest – oder sollte ich lieber sagen: losgeworden wärest? Ich nahm also meinen Fotoapparat und kroch auf dem Bauch unter der Plane durch, da ich zum Öffnen des Zeltes zu schwach war. Ich glaubte, ich könnte mich niemals wieder auf den Beinen halten. Es war kalt. Alles war verschneit und es wehte ein scharfer Wind. Ich machte ein paar Aufnahmen und ließ mich anschließend im Zelt wieder auf eine meiner Kisten fallen.

Wanderin mit dem Wind. Reisetagebücher in Briefen 1911 – 1917. Herausgegeben von Detlef Brennecke. Übersetzt von Christoph Rodiek. Edition Erdmann, Wiesbaden September 2018. 336 S., 24 Euro.

 

 

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