Geschrieben am 25. Mai 2011 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Sachen machen

Sachen machen: Im Arbeits-Paradies

Straelen

– Isabel Bogdan begibt sich für CULTurMAG ins Handgemenge mit den Dingen und probiert skurrile, abseitige und ganz normale Sachen aus. Manchmal hat sie allerdings gar keine Zeit zum Sachenmachen, sondern muss arbeiten.

Straelen ist eine Kleinstadt am Niederrhein, kurz vor der niederländischen Grenze. Straelen hat rund 15.000 Einwohner, ein großes, grünes Sofa, eine der höchsten Geburtenraten der Republik und irgendwie anrührende Brunnen. Wenn man einmal durch alle Straßen der Innenstadt geht, ist man nach zehn Minuten überall gewesen. Über Mittag sind die Geschäfte geschlossen, mit ein bisschen Pech macht sogar die Frittenbude Mittagspause. Der Ortsname spricht sich wie „Strahlen“, das E ist ein niederrheinisches Dehnungs-E. Um halb sieben werden die Bürgersteige hochgeklappt, denn in aller Herrgottsfrühe läuten schon wieder die Kirchenglocken. Um Straelen herum werden Blumen und Gemüse angebaut.

Man könnte Straelen also mit einiger Berechtigung für ein verschnarchtes Kaff halten, spontan fällt einem kein guter Grund ein, dort hinzufahren. Es sei denn, man ist Übersetzer.

Wenn man Übersetzer ist, bedeutet „ich fahre nach Straelen“ so viel wie „ich fahre ins Arbeits-Paradies“, nämlich ins Europäische Übersetzerkollegium Nordrhein-Westfalen in Straelen e.V., so der vollständige Titel. Im Übersetzerkollegium kann man nicht übersetzen lassen, man bekommt keine Aufträge, und man kann dort auch nicht übersetzen lernen (außer dass man es doch kann, aber dazu später), man kann dort nur übersetzen. Man kommt mit seinem Auftrag hierher und arbeitet, wie man es zu Hause auch täte – nur eben in der weltweit größten Spezialbibliothek für Übersetzer. Hier stehen 25.000 Nachschlagewerke in allen denkbaren Sprachen von Afrikaans bis Zulu, ebenso viele Sachbücher und 60.000 belletristische Titel; es dürfte ungefähr gar kein Fachgebiet geben, das hier nicht abgedeckt ist. All diese Bücher befinden sich in fünf zusammenhängenden ehemaligen Wohnhäusern mitten in Straelen, die sich früher um einen kleinen Innenhof gruppierten; heute sind die Wände zu diesem Innenhof herausgenommen, der Hof mit einem Glasdach überdacht, und dort befindet sich auf zwei Etagen im sogenannten Atrium das Herz dieser wundersamen bewohnbaren Bibliothek.

Um das Atrium herum liegen die Zimmer, und weil das Atrium bei weitem nicht ausreicht für die vielen Bücher, stehen auch auf allen Gängen und in allen Zimmern Bücher. Man fühlt sich gleich zu Hause. Jedenfalls, wenn man sich dann mal zurechtgefunden hat. Wer zum ersten Mal hier ist, empfindet das Kollegium meist als eine Art Fuchsbau, man weiß nie, welche Treppe jetzt wohin führt, und wie man nochmal in sein Zimmer kommt. Aber man kann es schaffen. Ehrlich! Eigentlich braucht man sich nur die Knarzmelodie der alten Holzdielen zu merken, dann kann man sich die Wege entlangsingen. Im Haus kursiert die Legende von einem Lyrikübersetzer, der seine Verse am liebsten abschritt, um in den richtigen Rhythmus zu kommen, und der den Kollegen im Zimmer unten drunten in den Wahnsinn getrieben haben soll. Möglicherweise wurde da aber ein bisschen dick aufgetragen, wie es mit Legenden eben so ist.

Ich bin diesmal in Zimmer 7 untergebracht, da steht die englische Literatur mit Autoren von Mansfield bis kurz nach Nabokov. Zum Zimmer gehört ein eigenes kleines Bad, außerdem ein Schreibtisch inklusive Computer. Ich habe aber meinen Laptop dabei und sitze zum Arbeiten lieber im Atrium, wo gerade herrlicher Sonnenschein ist, sozusagen straelend blauer Himmel.

Ich übersetze einen lustigen Frauenroman aus dem Englischen, außerdem wird hier gerade das Kommunistische Manifest ins brasilianische Portugiesisch übersetzt, Robert Walser ins Bulgarische und Uwe Johnson ins Dänische. Manche kommen für ein paar Tage her, andere für mehrere Wochen. Alle stellen hinterher fest, dass sie erstaunlich viel geschafft haben. Jeder arbeitet konzentriert vor sich hin, jeder in seinem Rhythmus, es gibt keine festen Zeiten, keine Aufsicht, keine Pflichten, kein gar nichts, nur die Ruhe zum Arbeiten, wie man möchte. Zwischendurch trifft man sich in der Küche, wo jeder für sich selbst sorgt oder man sich zum Kochen zusammentut, je nachdem, wer gerade da ist oder wer gerade zu viel gekocht hat. In dieser Küche wurde sogar schon ein Kochbuch geboren, mit Rezepten von verschiedensten Gästen des Hauses – das Buch heißt „Über Seezungen“. Und abends wird in dieser Küche gemeinsam Wein getrunken.

Das ist der Alltag, wenn gerade nichts Besonderes stattfindet. Ziemlich oft kommt aber noch irgendetwas dazu, Veranstaltungen, Lesungen, Arbeitstreffen deutscher Autoren mit ihren Übersetzern in verschiedene Sprachen, Preisverleihungen und immer wieder Seminare, die von verschiedenen Institutionen finanziert werden. Da gibt es Grundlagenseminare, Seminare für Übersetzer bestimmter Sprachen oder bestimmter Genres, wie Krimis, Lyrik, Theaterstücken, Unterhaltungsliteratur, zur Neuübersetzung von Klassikern oder solche für Studenten des Studiengangs „Literaturübersetzen“ in Düsseldorf, die Liste ist ziemlich lang.

Fast alle dieser Seminare sind kostenlos, ebenso wie ein Arbeitsaufenthalt im Kollegium. Das ist natürlich erstens ganz sensationell großartig und wundervoll, zweitens würde es anders auch gar nicht gehen, denn Literaturübersetzer verdienen ungefähr nichts. Würde es etwas kosten, das müsste nicht mal viel sein, dann würde niemand kommen. Bei einem Arbeitsaufenthalt bezahlt man 20,- € Küchenpauschale pro Woche, dafür werden Kaffee und Wasser und ein paar andere Kleinigkeiten eingekauft. Mit etwas Glück kann man sogar noch ein Stipendium für einen Aufenthalt bekommen. Finanziert wird das Ganze vor allem vom Land NRW, der Stadt Straelen und Projektmitteln verschiedener Institutionen.

Dass Straelen ansonsten nicht viel bietet, ist dem Arbeitspensum natürlich dienlich. Wer als Übersetzer herkommt, will ja genau das: nicht abgelenkt werden. Hier findet man optimale Arbeitsbedingungen, Nachschlagewerke in einer Anzahl, die einen ganz demütig macht, heilige Ruhe, knarzende Dielen und, was vielleicht das Beste ist, man hat plötzlich Kollegen. Die zwar zumeist allein vor sich hin arbeiten, aber wenn man in die Küche geht, ist wahrscheinlich jemand da, und der ist ziemlich sicher ein kluger Mensch, hat was zu erzählen und versteht genau, wovon man spricht. Es ist jetzt halb elf, ich geh mal gucken, vielleicht gibt es noch ein Glas Wein und nette Gesellschaft. Ich glaube, ich höre sie da unten lachen.

Isabel Bogdan

Isabel Bogdan übersetzt seit 10 Jahren Literatur aus dem Englischen (u. a. Jonathan Safran Foer, Miranda July, ZZ Packer, Tamar Yellin, Andrew Taylor). Sie lebt und arbeitet in Hamburg. Zur Webseite von Isabel Bogdan.
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