Wohin bewegt sich der Essay als Genre und Form?
– Bei der Lesung, die John Jeremiah Sullivan Ende Oktober in Frankfurt gab, ertappte ich mich bei einem verstörenden Gedanken: War meine wenig begeisterte Rezension seines Buches „Pulphead“ ungerecht gewesen gegenüber dem Autor, der da so charmant und lebhaft vortrug und obendrein nicht nur auf einer geliehenen Gitarre eine Gänsehaut erzeugende Version von Neil Youngs „Cortez the Killer“ zum Besten gab, sondern anschließend auch die textlichen Merkwürdigkeiten des Stücks präzise zu benennen vermochte?
Doch die Erkenntnis, dass mich der Song tiefer beeindruckt hatte als die Lesung, und an der Lesung wiederum die Tatsache, dass Sullivan von seinen Reportagen nur die besten oder wenigstens lustigsten Passagen vortrug, beruhigte mein Kritikergewissen etwas. Doch die Frage, was genau mich an Sullivans Texten wahlweise ärgerte oder schlicht kalt ließ, beschäftigte mich weiter. In meiner Besprechung habe ich als Gründe unter anderen genannt oder angedeutet: Die etwas aufdringliche Intimität, die ungefilterte Realität evozieren soll, und der Verzicht auf ein Selbstverständnis von Autorschaft als Autorität – d.h. auf den Anspruch, das Geschilderte zu deuten und daraus „Lehren“ gleich welcher Art abzuleiten.
Ein Gedanke, der mir eine ähnliche Stoßrichtung zu haben scheint, ist kürzlich in einer Diskussion ausgesprochen worden, welche das Erscheinen einer Liste der zehn besten amerikanischen Essays seit 1950 zum Gegenstand hatte. Ort der Diskussion war ein Podcast des Online-Magazins Slate, dessen Kritiker sich dort Woche für Woche mit den Phänomenen der (Alltags-)Kultur auseinandersetzen.
Nun mag schon der Reichtum an Essays, aus denen Robert Atwan, Herausgeber der alljährlich erscheinenden Anthologie Best American Essays, wählen durfte, manchen deutschen Journalisten zu Neid veranlassen: Die Klage über das Fehlen einer ähnlich vielfältigen Kultur des long-form journalism gehört zum Grundtenor des Lobs, mit dem Sullivan hierzulande begrüßt wurde. Doch was im Gespräch der Slate-Kritiker hervorscheint, ist die Ahnung, dass sich auch in den USA der Essay sich von seiner klassischen Nachkriegs-Form weg verwandelt hat, dass niemand mehr so schreibt wie weiland James Baldwin, Norman Mailer und Joan Didion.
Verzicht auf Erklärung des „großen Ganzen“
Zwar wäre, zumindest idealtypisch, spätestens hier zwischen Reportage und Essay zu unterscheiden (Atwan schließt den New Journalism explizit aus seiner Bestenliste aus), doch verwischen sich in der Praxis die Grenzen, und an beide richtet sich die Frage, was sich, angesichts einer Flut persönlicher oder bekenntnishafter Schriften, denn seit dieser klassischen Ära geändert hat. Die Essayisten? Die Kritiker? Die Kultur als Ganzes? Man ist sich in der Slate-Runde einig, dass niemand mehr sich den bombastischen Duktus Mailers traut, oder überhaupt: Von der eigenen Erfahrung zu abstrahieren, sie zu universalisieren. Gewonnen habe man dabei Empathie, die Anerkennung des Anderen. Doch herausgekommen sei auch ein zaghafter, von vornherein auf jeden Anspruch auf Erklärung des großen Ganzen verzichtender Ton, wie Stephen Metcalf am (nicht ganz glücklich gewählten) Beispiel David Foster Wallace ausführt:
And yet what it results in, in my estimation, is that tone of David Foster Wallace’s, which to me is one of cringing apology, you know, “I’m not an authority, I’m not deputized by any higher power to say what I’m about to say”, and instead what you get is something tentative, creepy and small, and it’s the opposite of Mailer. The terror is sounding like Mailer, the bloviating, know-it-all white guy who’s going to tap into the universal consciousness for the rest of us. At the end of the day, I prefer Mailer.
– Unglücklich gewählt weil, wie Metcalfs Diskussionspartner anmerken, es Wallace tatsächlich gelang, in einem Essay wie „A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again“ anhand des Mikrokosmos Kreuzfahrtschiff amerikanische Befindlichkeiten um die Jahrtausendwende herum auszuloten. Überhaupt wäre man geneigt, in Metcalfs Ausführungen undifferenzierten Kulturpessimismus zu vermuten – beschliche einen nicht die Ahnung, dass er doch Recht hat: Einfach weil die Angst, sich mit angemaßter Welterklärungsautorität der Lächerlichkeit preiszugeben, allzu nachvollziehbar ist.
Auch die Reportagen John Jeremiah Sullivans scheinen mir an dieser Zaghaftigkeit zu kranken. Es wirkt wie ein ethischer Pakt mit sich selbst, als könne Sullivan seine Ich-Perspektive, nur dadurch rechtfertigen, dass er sich kleinmacht, als müsse, wer sich in den Mittelpunkt stellt, wenigstens die Angriffsfläche gering halten. Zur Persona Norman Mailers gehörte es auch, in Kauf zu nehmen, für ein Arschloch gehalten zu werden. Das liegt nicht jedem – schon gar nicht mir, weshalb ich es niemandem verdenken will. Man muss auch nicht zum Darsteller seiner selbst verkommen, wie Mailer in seinen späteren Jahren. Und doch muss riskieren, wer seine Zeit auf den Begriff oder wenigstens etwas Ordnung in Gewirr bringen will, daran zu scheitern.
Das zaghafte Subjekt
Es mag – um meinerseits noch eine steile These zu wagen – damit zusammenhängen, dass die schon seit geraumer Zeit kursierende Mär vom Tod des Autors sich doch noch bewahrheitet: In Gestalt des Schwindens des autonomen, sich selbst entwerfenden Subjekts und damit der Autorenpersönlichkeit, die meinte, es kraft der mühsam kultivierten Einsichten mit allem und jedem aufnehmen zu können. Es mag auch sein, dass die einst nur metaphorisch existierenden, inzwischen aber konkret dinglich gewordenen „Netzwerke“ uns die jeweils Anderen so sehr aufdrängen, dass dem alten bürgerlichen Subjekt kein Raum mehr zur Entfaltung bleibt, es sich immer schon neutralisiert fühlen muss.
Mit diesem Ich zerfällt auch das Subjekt des klassischen Essays, einer Form, die in der frühen Neuzeit mit Montaigne ihren Anfang nahm. Nun wäre es ein überraschender Zufall, wenn die Neuzeit pünktlich zum Erscheinen dieser Zeilen zu Ende ginge. Untergangsprognosen gewinnen in dem Maße an Absurdität, wie sie eine These stützen, Interessen dienen sollen. Was sich jedoch am Beispiel Sullivan einerseits, an der Slate-Diskussion andererseits zeigt ist, dass diese Bestandsaufnahme einer noch so willkürlich definierten Epoche in Form einer Bestenliste zusammenfällt mit einer Unsicherheit, wohin sich der Essay als Genre und Form hinbewegt. Die Zukunft aber bleibt zu gestalten – wie, wenn schon nicht mit Worten? Wer diesen Prozess zumindest in englischer Sprache verfolgen will, dem sei zum Schluss das hervorragende Portal longform.org empfohlen, in dem aktuelle Essays und Reportagen neben Klassikern und wiederentdeckten Perlen stehen.
Joe Paul Kroll