Was für ein kolossaler Kerl!
Ein offener Brief an den Chefredakteur des deutschen „Lettre International“. Von Wolfram Schütte
Lieber Frank Berberich,
was kann man denn noch machen – nachdem Ihnen Arno Widmann eben via „Berliner Zeitung“/FR (27.3.13) in seinem öffentlichen Liebesbrief schon alles gesagt hat, was einem selbst als „Lettre“-Abonnent (ab ovo) auf der Zunge liegt? Nach 100 Ausgaben in 25 Jahren, von denen man keine als Leser mit roten Ohren, entzündeten Augen & elektrisierten Nerven (ob der Vielfalt der Themen, dem Reichtum literarischer Formen & der schieren Masse des in jedem Heft Dargeboten) versäumt & jedes Mal als Professioneller auch bestaunt hatte – was, sage ich, kann man da heute, wo Ihr „Lettre“-Doppelhelix zum Jubiläum mit Lesestoff für die kommenden Wochen & Monate vorliegt, Ihnen & der literarisch-intellektuellen Welt noch zu ihrem Lob sagen?
Ich kann mich nur als Gratulant Widmanns Eloge auf das schier unglaubliche Werk, das Sie & Ihre Mitarbeiter zustande gebracht haben, mit meinen Worten, bzw. erst einmal mit Ihren fortsetzen! Seit der tschechische 68er-Emigrant Antonin Liehm in Paris, der die Idee einer europäischen Kulturzeitschrift in den verschiedenen Sprachen & Nationen entwickelt hatte, Ihnen deren deutsche Ausgabe anvertraute, haben Sie „Lettre International“ auf Deutsch zu einem einzigartigen publizistischen Medium gemacht, das Widmann ohne Übertreibung & ganz sachlich „die beste Kulturzeitschrift der Welt“ nannte. Dagegen sieht sogar das bewundernswerte „New York Review of Books“ nachgerade bescheiden-eindimensional aus, nämlich als nur das beste Rezensionsjournal des Angelsächsischen (wie qualifiziert & umfänglich auch immer seine Artikel & Autoren sein mögen, die Sie, by the way, gelegentlich in „Lettre“ übersetzen.)
Sie, Herr Berberich, bieten augenzwinkernd in Ihrer jetzigen Centenarnummer eine ganze Reihe amüsant-treffender Kurzcharakteristiken für Ihr „Lettre“ an; und weil wir gerade im Jean-Paul-Jahr sind, greife ich mir die vier heraus, die dem Jubilar sprachlich & humoristisch am nächsten kommen: „Lettre International“ ist (u. a.): „Ein Geheimrezept zum Kochen des Phönix“, eine „Karawanserei der Grenzgänger“, „Eine Schießpulververschwörung im digitalen Zeitalter“ & „Eine Honigsammelstelle für Lustleser“.
Von Letzterm soll vor allem zur Jubelfeier die Rede sein.
Sie, Frank Berberich, gehören zu der Spezies der selbst nicht schreibenden Redakteure. Sie „lassen schreiben“; aber sie wissen wie kein Zweiter: wer was & worüber unter Ihren Augen & Fittichen schreiben könnte, bzw. publiziert werden sollte. Solche Redakteursfindigkeit setzt z. B. voraus (was vielen schreibenden, nur „selbstbezogenen“ Redakteuren abgeht): vorbehaltlose Neugier, Weltoffenheit, Furchtlosigkeit, Spürsinn, Phantasie, weitreichende Kenntnis auf allen Geistesgebieten & von deren weltweit besten Autoren.
Aber um im Bild zu bleiben: zu bewundern ist dabei Ihr unermüdlicher Bienenfleiß & -flug zu der Vielzahl von Blüten, aus denen Sie den notwendigen Nektar saugen und mit einer Schar von kenntnisreichen, nie hoch genug bedankten Übersetzern in die Honigwaben der „Lettre“-Texte transferieren – um die sich dann die Leser erwartungsfroh sammeln, damit sie das reiche Angebot mit & nach Lust & Laune alle 3 Monate schlürfen können.
Man wird als „Lettre“-Aficionado nach 100 Ausgaben auch mal mit solchen kulinarischen Metaphern von dem Glück der Überraschungen, dem Entzücken der intelligenten Zusammenstellungen, den geistigen Freuden an den von Ihnen aus entferntesten Wissensbereichen, Stoffen & Themen herbeizitierten Artikeln sprechen dürfen.
„Lettre International“ ist ein sinnliches Vergnügen von einzigartiger Intensität – & das nicht nur wegen der malerisch-zeichnerisch-fotografischen Beiträge internationaler Künstler, denen es eine auszeichnende Ehre ist (wie den weltbekannten Beiträgern der Texte), zu „Lettre“ zu gehören.
Das von Ihnen praktizierte Rezept ist genuin journalistisch, aufklärerisch, universalistisch. Indem sie neben Essays, Aufsätzen, Glossen, auch Berichte, Gespräche & Reportagen stellen, transzendiert „Lettre“ die engen Grenzen anderer (nicht nur deutschsprachiger) Kulturzeitschriften. Und indem Ihnen „nichts Menschliches fremd“ ist, will sagen: Ihr Kulturbegriff & Erkenntnisinteresse Politik & Kunst, (Natur-) Wissenschaft & Philosophie souverän umfasst, bietet diese „Zeitschrift für Europa“ nicht nur unterschiedlichste Reflexionen über europäische Belange, sondern genauso ist sie – thematisch & durch ihre Beiträger weit darüber hinausgreifend – ein blitzender Reflektor dessen, was weltweit ansteht, geschieht, gedacht & ästhetisch-intellektuell gemacht wird.
Einem journalistischen Konzept folgt „Lettre“ nicht nur durch den aufregend-abwechslungsreichen Charakter eines Kaleidoskops unterschiedlichster Artikel, das vielen Unterschiedliches nah bringt; journalistisch ist auch bei der jeweils in dicker Buchstärke erscheinenden Einzelausgaben der Angebotscharakter der großformatigen Hefte, die auf den leidenschaftlich-taktilen Printpresse-Leser setzen.
D. h. als Leser kann, soll, ja: muss man auswählen (sonst käme man zu gar nichts mehr, noch nicht einmal mehr zum Leben). Das wird man als „Lettre“-Leser, dem so oft die Augen übergehen angesichts so vieler verlockender Lektüre-Angebote, erst einmal lernen müssen: Wer die Wahl hat, hat die Qual – es ist die Qual, in die Sie uns immer wieder gestürzt haben, lieber Frank Berberich. Dafür & für die tollkühne Ausdauer, ihre Zeitschrift ohne finanzielle Hilfen durch die mannigfachen Fährnisse der Zeiten gesteuert gebracht und dabei ohne Kompromisse den Kurs der nimmersatten & nimmermüden Neugier gehalten zu haben, gebührt Ihnen nicht allein unsere Bewunderung & unser Dank. Sondern auch der Dank aller, die in diesem Sprachraum mit Kultur, Politik & geistigem Leben zu tun haben: schreibend oder nur lesend. Widmann hat recht: Eine öffentliche Ehrung ist für Sie an der Zeit – & wenn sie erst erfunden werden müsste für einen kolossalen Kerl wie es der deutsche Chefredakteur von „Lettre International“ nun einmal ist!
Zu beklagen aber ist es, dass dieses wahrhaft gewaltige Arsenal aktuellen Wissens, Denkens & Spekulierens-in-den-Elementen der Welt-Zeit von unserer schreibenden Intelligenz so gut wie gar nicht als ein (geologisch gesprochen) erzreich(haltig)es Gelände ausgebeutet & als stetige Anregung zum Selber- & Weiterdenken ge- & benutzt wird!
Aber das ist gewiss nicht Ihre Schuld, Frank Berberich (& Ihrer Mann/Frauschaft)! Es liegt nur an der Engstirnigkeit & Selbstbezogenheit hiesiger Feuilletonisten, an ihrer Provinzialität, die so verschlafen & ignorant ist, dass man noch einmal mutmaßen muss, sie ließen aus bösartigem Neid ein solitäres journalistisches Intelligenzmedium wie „Lettre International“ links liegen. Eine stetig gewachsene Zahl von Lesern ist im Laufe der glorreichen 25 Jahre, in denen es nun schon sogar auch am Kiosk (!) erscheint, an den Ignoranten vorbei gezogen: hin zu diesem weltoffenen „Wildwechsel ins Kommende“.
Grüßen wir Sie & Ihr Arsenal für des Geistes Gegenwärtigkeit mit den alten Wunschworten: ad multos annos!
Wolfram Schütte
Lettre International. Die Jubiläumsausgabe! 188 Seiten. 34 Autoren. 37 Künstler. Zur Verlagsseite. Lettre bei Facebook. Redaktionsleiter Berberich im Gespräch.