Geschrieben am 21. November 2020 von für Musikmag

Der Nero Bates Weekender

Ein Festival im Kopf im November

Es hat ja schon einige Jahre Tradition, dass ich einen Bericht über den alljährlichen im November stattfindenden Rolling Stone Weekender für CulturMag verfasse. Aber in diesem Jahr findet das Festival wie alle anderen Kulturveranstaltungen wegen des doofen Virus leider nicht statt. Damit kann ich mich aber nicht zufriedengeben. Ich veranstalte kurzerhand meinen eigenen Weekender …

Hallo, geht’s noch? Ist Attila Hildmann der Booker und spielen Xavier Naidoo und Michael Wendler dort auf? Natürlich nicht, diese verstrahlten, völlig abgedrehten Gestalten haben nichts mit meinem Festival zu tun. Das ist ein Festival, das in meinem Kopf stattfindet und es ist ganz exquisit besetzt. Also: „Turn on the sound, close your eyes, play it out loud and let’s go”…

Eröffnet wird mein Festival auf der kleinen Club-Bühne von Jutta Spang, die ihr ganz vorzügliches Album „Two 1/2 Handbags“ vorstellt. Jutta spielte in den frühen 80ern bei der im Westerwald legendären Band „Schreckenstein“, war lange Jahre musikalisch nicht mehr aktiv und hat jetzt ziemlich überraschend ein neues Album veröffentlicht. Unterstützt von der „Crème de la Crème“ der Koblenzer Musikszene, u. a. Carlos Ebelhäuser (Blackmail) oder George Rademacher (Toxoplasma), ist ihr ein auch produktions- und klangtechnisch außergewöhnliches Album gelungen. In der Tradition großer amerikanischer Songschreiberinnen wie Carly Simon oder Carol King gelingt ihr eine Songauswahl „à la bonne heure“. Stilsicher geht es mit dem „Old Land Rover“ los, der eine entspannte wohlige Stimmung verbreitet. Jutta kann aber auch Rock, zu hören in „Breadcrumbs“ oder in „White Carpet“, die stark von der Klasse der beteiligten Gitarristen geprägt werden. Am überzeugendsten erscheinen aber die eher gedämpften, gediegeneren Nummern, wie „The River“ oder „Beg You For More“, die in erster Linie vom kompositorischen Talent und der Stimme der Künstlerin leben. Ein sehr wohlklingender Einstieg in dieses virtuelle Festival.

https://soundcloud.com/search?q=jutta%20spang

Weiter geht es auf der großen Bühne mit „Nah…“. Die Band spielt Twee Pop, und man fühlt sich direkt ins Glasgow der 90er Jahre versetzt. Bei „Nah…“ handelt es sich aber um die Band von Estella Rosa aus Amsterdam und von Sebastian Voss aus Münster, der mit „Stars play music“, „Lancaster“ und „The Fisherman and his soul“ noch einige andere musikalische Eisen im Feuer hat. Die beiden kooperieren ausschließlich via Internet und haben so eine Spitzen-Platte produziert. Nach einigen Singles ist das Debut-Album von „Nah…“ beim renommierten Shelflife-Label aus den USA sogar in Vinyl erschienen und war nicht zuletzt dem Rolling Stone eine positive Kritik wert. Toll produziert kommt die Platte mit vielen Hits um die Ecke. Wir hören federnd leichte Bass- und Gitarren-Läufe, eine wunderbare Stimme von Estella und tolle jubilierende „Ba-Ba-Ba-“ und „Na-Na-Na-Chöre“. Ich bin in dem Genre nicht wirklich sattelfest, mein Referenzpunkt für diese Musik sind die frühen „Belle and Sebastian“, hier kann „Nah…“ durchaus reüssieren. Mein Favorit sind die „Apple Blossoms”, klassischer Indie-Pop gibt es bei “Annie“ und „Primavera“ strahlt „Italian flair“ aus. Etwas rockiger geht’s bei „Finger on the map“ und bei „Road trip“ zu, besser steht ihnen aber die feine Klinge, die dann in „Summers falling“ wieder herausgeholt wird. Große Zufriedenheit herrscht beim Verfasser dieser Zeilen auch nach dem zweiten Festivalact.

https://shelfliferecords.bandcamp.com/

Jetzt geht es wieder zurück in den Club, und die Bühne betritt Klaus Michel, ein aus Keidelheim im Hunsrück kommender Singer-Songwriter. Klaus ist schon viele Jahre in der lokalen Musikszene, z.B. mit „Tunes for the takin‘“ unterwegs und hat auch schon diverse Veröffentlichungen auf dem Buckel. Auf seine neue Platte, die er mit fünfzehn Gastmusikern eingespielt hat, bin ich eher zufällig über die, wen wundert‘s, sozialen Medien gestoßen. Mal Slow-hand, mal Up-tempo, aber immer Laid-back bietet Kaus Michel eine gut abgehangene Country-Americana-Pop Mischung. Tolle Songs, die alle im Frühjahr des Jahres unter dem Covid 19-Einfluss entstanden sind, daher auch der Titel „Primavera“. Los geht es mit drei eher country-angehauchten Nummern und schmachtenden Pedal steel-Gitarren, bevor es mit dem mit einigen Soundeffekten aufwartenden „Three Weeks“ im positiven Sinne eingängig poppig wird. Ein Zitat aus „Dance Hall Days“ von Wang Chung eröffnet „Hands“ die Single und auch den Hit der Platte. Eine tolle Mischung aus einem Townsend-Gitarrenriff, einer schönen entspannten Strophe und einem jubilierenden, mehrstimmigen Refrain – sehr abwechslungsreich und eingängig zugleich. Etwas rockiger wird es dann bei „American Dream“, einem Song über Rassismus in den USA und den hoffentlich bald verschwundenen Politclown an der Spitze. Sehr schön finde ich auch das traurige Lied „Passing Away“, mit sehr melancholischen Harmoniewechseln und Gitarrenfeedback am Ende. Abrupter Wechsel dann zum letzten Lied „Vacation“, das losgeht wie „Enjoy Yourself“ von den Specials und inhaltlich einen positiven Ausklang bereitet: „Enjoy vacation my Darling“. „Primavera“ ist ein Album mit sehr songdienlichen Arrangements, mit toller Gitarrenarbeit, mit schönen Gesangsharmonien und vor allen Dingen, was wie immer das Wichtigste ist: mit sehr guten Songs.

Auf der großen Bühne gibt es jetzt wieder mehr „auf die 12“ mit Asteroid Kane aus Berlin. In guter Tradition von Bands wie Pixies, Lemonheads oder Sugar spielt die Band klassischen Indie-Gitarren-Rock. Auch hier misst sich die Qualität der Musik natürlich an der Güte der Lieder, und die sind stark. Eine EP mit sechs Songs haben Alex Weber und seine vierköpfige Band Anfang 2020 veröffentlicht. Alex ist viele Jahre mit Bands wie „Get Geist“, „The Schlomo Weintraup Syncopators“ oder „The El Paso Beefheads Country and Western Show“ im Großraum Gießen musikalisch unterwegs gewesen. Seit einigen Jahren in Berlin, hatte er zunächst Asteroid Kane als Soloprojekt am Start, mittlerweile ist aber eine Band daraus geworden. Der Opener „Enemy“, „Pissing In The Snow“ und das etwas getragenere „Boulevard Baudrillard“ sind meine Favoriten. Sicher keine hochinnovative Musik, aber tolles Songwriting, und das sehr ansprechend umgesetzt. Das macht Lust auf mehr und insbesondere live bietet Asteroid Kane ein sehens- und hörenswertes Vergnügen. Einige Gigs in Berlin gab es bereits, wir warten auf mehr.

Zum Abschluss dann, gegen Mitternacht, gibt es mit „Don’t mess with the firemen“ ein abwechslungsreiches Programm mit Liedern voller Blues, Jazz, Twang, Rock und Pop. Tom Waits-mäßig-grummelig fängt das vierte Album der Band „Even the devil needs a friend“ an. Die „Firemen“ sind eine Combo aus Hamburg, deren Sänger und Hauptsongschreiber Chrischi Wolf seit einigen Jahren im Münsterland wohnt und dort auch noch die Band „Twins on fire“ zusammen mit Nero Bates dem Sänger und Songschreiber von „The No Colour Twins“ am Start hat. Das ist aber eine andere Geschichte.

Die „Firemen“ fahren zum Aufnehmen eines neuen Albums immer mit ihrem Soundmann für zwei Wochen auf einen Bauernhof nach Dänemark. Und die Entspannt- und Gelassenheit einer solchen Aufnahme hört man der neuen Platte wieder zweifelsohne an. Nach eher etwas „angebluesten“ Nummern geht es mit Country-Twang und „Going Up The Country“ weiter. Danach folgen einige rockigeren Lieder. Insbesondere das fiebrig-nervöse „Me & The Devil“, zu dem es auch ein feines Video gibt, sticht heraus. „Ruby’s Red Baloon“ schickt dann den unsäglichen Donald endlich nach Hause. Mit Bar-Room-Jazz („Killing Daisis“) und staubigem Wüsten-Country („The Town Where Nobody Lives“) biegt die Platte auf die Zielgerade. Aber es kommt noch mein Favorit, das funkelnde „Poisened Butterflies“, lässig-locker daher. Nicht nur der französische Einschlag im Text erinnert an die großartigen „Style Council“, auch musikalisch sind wir hier mitten im England der 80er.

Augen wieder auf und vorbei ist mein Festival im Kopf an einem sonnigen November-Samstag. Das war sehr schön, doch noch schöner wird es sein, diese und andere Künstler wieder live in echt auf den Bühnen dieser Welt oder vielleicht beim Rolling Stone Weekender bewundern zu dürfen. Drücken wir die Daumen und helfen mit, dass das bald wieder geht.

Wolfgang Buchholz