Die Vitalität der Gefahr
„Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“ ist seit jeher die Rechtfertigung der Mutlosen für ihr komatöses Dahindämmern im Stillstand. Dass, wer die Gefahr sucht, ganz im Gegenteil darin mit all seinen Sinnen erwacht, weiß Andreas Altmann.
Der kischpreisgekrönte Reiseschriftsteller beschreibt in seinen Reportagen den Urgrund des Reisens: zu spüren, dass man am Leben ist. Der mobile Autor hat viel gesehen, er berichtet aus Asien, Afrika und Südamerika. Und aus Europa ohnehin: Vor zwei Jahren ging er zu Fuß von Paris nach Berlin und erzählte davon in seinem „Buch 34 Tage/33 Nächte“. Immer mit Interesse an Land und Leuten, aber vor allem getrieben von der Sucht nach unmittelbaren authentischen Erfahrungen, die im Grenzbereich der körperlichen Belastung entstehen: „Ich ahnte, dass diese Art, mich fortzubewegen, meinen Leib herausfordern, ihn plagen und piesacken würde. Gleichzeitig bekäme ich täglich, ja stündlich das euphorische Gefühl vermittelt, dass ich am Leben bin, dass ich existiere“.
Von den intensiven Gefühlen und Gedanken eines fangnetzlosen Lebens auf des Messers Schneide handelt auch sein neuester Geschichtenband „Getrieben“, Altmanns persönlichstes Buch. Versicherungsbetrug, Diebstahl, Sex-, Drogen- und Zerstörungsorgien – hautnah, manchmal bis unter die Haut, lässt der Autor den Leser an sich heran. Hier berichtet einer von der Wirklichkeit jenseits der Moral und der bürgerlichen Werte, von einem Leben, das nur die Stärke der eigenen Intensität als Maßstab akzeptiert. Altmanns Haltung ist ausschließlich: er wütet gegen die abgesicherten „Sparkassenexistenzen, deren Aufregungen auf einem Millimeterpapier platz haben“, gegen die „Verwüstungen einer vollkaskoversicherten Windel-Gesellschaft“, will sich nicht einkochen lassen in der „lauwarmen Pisse“ einer erstarrten bürgerlichen Existenz. Ihn treibt die Sucht nach dem Stachel im Fleisch, eine fiebrige Lebensgier, die ihn seiner selbst versichert, sei es in den Straßen von Seoul auf der Flucht vor einem koreanischen Zuhälter oder beim Fingieren eines Überfalls in Hongkong, wo auf das Vortäuschen einer Straftat monatelanges Gefängnis steht: „Wieder höre ich mein Herz, wieder spüre ich die Angst, wieder bin ich auf intensivste Weise am Leben“.
Keine Reisereportagen versammelt der vorliegende Band, erzählt nicht von exotischen Begegnungen mit fremden Kulturen. Getreu des Bonmots ‚Ich kann zwar wegfahren, aber ich nehme mich überall hin mit’, umkreisen seine Berichte im Kern ganz gewollt nur die eigene Person. Altmanns Begierden, seine Lüste, seine Stärken aber auch Ängste, Feigheiten und Hysterien. Wer sich so entblößt ist angreifbar. Und manchmal ist der virile Altmann in der Tat schwer zu ertragen: „Nur wer lodert, hat das Recht zu schreiben“, diktatort der Kraftmeier dann und klaut nicht nur die Bücher aus dem Regal, sondern vernascht gleich noch die Buchhändlerin, die er bestiehlt.
Doch es geht auch anders, zärtlicher. In einer berührenden Geschichte erzählt Altmann von seinem Aufenthalt in einem thailändischen Aidshospiz, von aktiver Sterbehilfe, nicht durch Medikamente, sondern durch menschliche Wärme. Stundenlang massiert er den Sterbenden den Körper oder sitzt einfach dabei, während des Übergangs. Hier, im Moment des Todes, beginnt „die verdammt schöne Welt“ zu leuchten, das intensivierte Leben glänzt reicher, als „Gegenteil von virtuell, von spaßig, von lauwarm“. Im buddhistischen Kloster beginnt Altmann im „Präsens zu leben, präsent zu sein“. Er leert seinen Geist und lernt, der Gegenwart nicht weiter zu entfliehen.
In einer anderen Geschichte findet Andreas Altmann ein passendes Bild für diese die ganze Aufmerksamkeit ausfüllende Gegenwärtigkeit. Auf der Suche nach einem Hotelzimmer in den Nebenstraßen Algiers hört er plötzlich einen bestialischen Schrei. Kurz darauf sieht er ein grausames Schreckbild: Die Wohnungen der Häuser sind durch schwere Eisengitter mit vielen teuflisch spitzen Zacken voneinander getrennt – und auf einem dieser Zacken steckt eine Katze. „Man sieht, wie sie verzweifelt den Rücken nach oben krümmt und die Pfoten in den Maschendraht krallt. Um Abstand zu halten und das Eindringen des Metalls in ihr Fleisch“ zu verhindern. In diesem Moment äußerster, lebensbedrohlicher Gefahr, in der unmittelbaren Bedrohung des Lebens, kämpft die Katze mit ihrer ganzen Kraft um eine Existenz, die sie wohl kaum ein anderes Mal so „bewusst“ erlebt. Ähnlich des enervierenden Schreis der bedrohten Katze untergräbt auch Altmanns kräftige literarische Stimme die dicke Schicht der Gewohnheit, die einen jeden von der unmittelbar erfahrenen Wirklichkeit so häufig trennt.
Darin liegt die große Stärke des Buches: Die vitale Kraft der intensiv geschilderten fiebrig-vibrierenden Lebensmomente im Angesicht der Bedrohung überträgt sich immer wieder auf den Leser und entrümpelt auch dessen vollgemüllten Geist. Und wer sich in Gefahr begibt, weiß der am Ende ebenfalls, blüht darin auf.
Jan Karsten
Andreas Altmann: Getrieben. Stories aus der weiten wilden Welt. Solibro Verlag 2005. 201 Seiten. 14,90 Euro. ISBN 3-932927-257