Geschrieben am 29. September 2008 von für Bücher, Litmag

Aravind Adiga: Der weiße Tiger

Scharfes Sittenbild

Aravind Adiga wirft in seinem Romandebüt „Der weiße Tiger“ einen bitter-ironischen Blick auf die Gesellschaft des Globalisierungsgewinners Indien. Von Jörg von Bilavsky

Genetisch gesehen gibt es zwischen den indischen Kasten kaum einen Unterschied. So die überraschenden Ergebnisse einer jüngst veröffentlichten Forschungsstudie. Vor sieben Jahren behaupteten andere Wissenschaftler noch, die höheren Kasten seien eher mit den Europäern verwandt. Doch wie Anthropologen und Genetiker das indische Erbgut auch auseinanderdröseln, die indische Gesellschaft teilt sich noch immer in Herren und Diener. Daran scheinen weder die Gene noch die Globalisierung etwas geändert zu haben. Traditionen sind eben nicht so einfach zu überwinden. Außer man tötet sie kurzerhand ab und schwingt sich mithilfe eines heimtückischen Mordes vom Diener zum Herren auf. So wie Balram Halwai, der „ungewöhnliche Ich-Erzähler“ aus Aravind Adigas fulminantem Romandebüt.

Wie er es in kurzer Zeit vom ausgebeuteten Chauffeur zum Chef einer florierenden Taxiflotte in Boomtown Bangalore gebracht hat, berichtet er in sieben langen Bekennerbriefen. Adressiert an den chinesischen Ministerpräsidenten, dem er anlässlich eines angekündigten Staatsbesuches die ungeschminkte Wahrheit über seinen Aufstieg und damit auch über den Aufstieg Indiens präsentiert. Wer die fiktive „Autobiografie eines halbgaren Inders“ liest, wird ein ganz neues Bild von diesem asiatischen Wirtschaftswunderland bekommen. Eines, das mit den düsteren Farben der Korruption, Gewalt und Demütigung gezeichnet ist. Und ein Land kennenlernen, das nur diejenigen Inder am Wachstum teilhaben lässt, die sich aus ihrem „Hühnerkäfig“ befreien und ebenso skrupellos zuhacken wie die tonangebenden Hähne. Doch das gelingt nur den wenigsten, sitzt doch die Herren-Diener-Mentalität noch fest in den Köpfen der Kasten. Der armen wie reichen.

Ungerechtigkeit und Ungleichheit als Vorraussetzung für den Wirtschaftsboom

Der für namhafte westliche Zeitschriften („Time“) und Zeitungen („Financial Times“) schreibende Korrespondent Adiga ist selbst gebürtiger Inder, wenn auch keiner der untersten Kaste, betrachtet man die schillernden Stationen seines Bildungsweges von der Columbia University in New York bis zum Magdalen College in Oxford. Dennoch scheint er die Sitten und Gebräuche der unterwürfigen Landbevölkerung ebenso gut zu kennen, wie die der selbstherrlichen Gutsbesitzer und Geschäftemacher. Anders ist es nicht zu erklären, wie er sich so gut in die Seele und Gedankenwelt eines abenteuerlichen Aufsteigers hineinversetzen kann. So übertrieben es dem „zivilisierten“ Europäer auch erscheinen mag, wenn Halwai seinem Herrn die Füße waschen, in Delhi mit Kakerlaken nächtigen muss oder wegen einer verlorenen Rupie getreten wird, die gesellschaftliche Realität wird kaum weniger düster aussehen.

Doch liefert uns der scharfsichtige Journalist keine realitätsnahe Reportage, sondern einen realitätsnahen Roman, der die Eindrücke, Wahrnehmungen und Einstellungen seiner Protagonisten kunstvoll miteinander kontrastiert und ihre Lebenswelten erst richtig sichtbar und fühlbar macht. Das Leben in den neuen Zentren der Globalisierung spielt sich eben nicht so glorreich ab wie in Thomas L. Friedmans Reportagen. Aber auch nicht nur so erbärmlich wie in Naomi Kleins Globalisierungsschockern. Es ist widersprüchlich und widerwärtig, aber vermutlich genau so, wie es Halwai aus seiner Perspektive schildert. Freilich ist seine Karriere nicht exemplarisch, weshalb der Held auch mit dem seltenen weißen Tiger verglichen wird. Doch sein Werdegang zeigt ziemlich eindrücklich, auf welch unmenschlichen, aber mächtigen Pfeilern die indische Ökonomie heute noch ruht. Wirtschaftliche Prosperität führt nicht zwangsläufig zu sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Ganz im Gegenteil. Ungerechtigkeit und Ungleichheit sind mitunter die besten Voraussetzungen für den Boom. Adiaga hat das klar erkannt und dann das derzeit schärfste Sittenbild Indiens gezeichnet.

Jörg von Bilavsky

Aravind Adiga: Der weiße Tiger. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. C.H. Beck Verlag. München 2008. 319 Seiten. 19,90 Euro.