Geschrieben am 1. August 2012 von für Bücher, Litmag

Boris Johnson: 72 Jungfrauen

Glückliche mentale Nebel, tumbe Terroristen

Boris Johnson liefert mit „72 Jungfrauen“ eine schrille Satire, deren ätzender Sarkasmus und gnadenlose Tabuverletzungen an Evelyn Waughs beste Romane erinnern. Genau das Richtige für laue Olympiatage. Von Peter Münder

Seine Chancen, Premierminister zu werden, seien genauso groß, wie Elvis auf dem Mars zu finden oder im nächsten Leben als Olive wiedergeboren zu werden, konstatiert Boris Johnson, 48, der gegen den konservativen Abwärtstrend wiedergewählte Londoner Bürgermeister. Keine Frage: Boris ist populär, viel erfolgreicher als Premier Cameron und er lässt auch nie den bierernsten, moralisierenden oder oberschlauen Amtsträger raushängen. Fast überlebensgroß ist der Nimbus, mit dem der passionierte Radfahrer mit dem blonden Wuschel-Mop verklärt wird: Er ist ein brillanter Redner, er hat nicht nur Witz und Charme, sondern auch einen beeindruckenden Hang zur selbstironischen, lässigen Dilettanten-Attitüde. Und er scheint trotz seiner vielen aufreibenden Affären und Ehekrisen auch noch Zeit für andere interessante Nebenbeschäftigungen zu haben: Der ehemalige Chefredakteur des Wochenmagazins „Spectator“ schreibt inzwischen Sonntagskolumnen für den „Telegraph“ – nebenher beim Plantschen in der Badewanne, für ein hübsches Sümmchen, hat er offenbart.

In diesen Kolumnen wettert er gern gegen den bürokratischen Alltagswahnsinn („Diesmal können wir Brüssel nicht für diesen Quatsch verantwortlich machen“) wie das neueste, von der Hafenbehörde erlassene Badeverbot in der Themse: „Kann nicht jeder selbst entscheiden, ob er sich im Dreckwasser der Themse einsauen will? Wie sollen Englands Kicker jemals gegen Italien gewinnen, wenn alle Briten immerzu und überall gegängelt werden und keinen Mumm mehr entwickeln können?“, empört sich Boris. Wer wollte da widersprechen? Sein neuestes Buch über Londoner Promis, die seine geliebte Achtmillionen-Metropole geprägt haben („Johnson´s Life of London“), ist eine grandiose Liebeserklärung an die Stadt, während die von ihm angeschobenen Projekte wie die Seilbahn über die Themse oder der neuentwickelte Doppeldeckerbus ihn auch munter auf Trab halten.

Aber droht nun nicht das von vielen befürchtete Olympia-Chaos? Mit all diesen irren kriegsähnlichen Sicherheitsvorkehrungen wie etwa dem 17,5 Kilometer langen Zaun, vier Meter hoch, 100 Millionen Euro teuer, mit 5000 Volt aufgeladen? Mit 23 000 Sicherheitsleuten und 13 500 Soldaten, was die Truppenstärke der in Afghanistan eingesetzten britischen Militärs übertrifft? Mit den umstrittenen Olympia-Lanes, die den Verkehrskollaps so rasant beschleunigen? Der optimistische Boris versucht jedoch, alle drohenden Übel, darunter auch mögliche Anschläge islamistischer Selbstmordattentäter, mit lässig-ironischen Goodwill-Gesten herunterzuspielen. „We are going to enjoy these games“ lautet seine Parole. Auch wenn diese die aberwitzige Summe von zwölf Milliarden Euro verschlingen.

Dabei liegt 7/7, das islamistische U-Bahn-Attentat vom 7. Juli 2005 mit 56 Toten, erst sieben Jahre zurück. Und genau zu dieser Zeit hatte er seinen jetzt ins Deutsche übersetzten satirischen Roman „72 Jungfrauen“ veröffentlicht, in dem er das groteske Szenario eines stümperhaft eingefädelten islamistischen Selbstmord-Attentats während des Staatsbesuchs des US-Präsidenten (George W. lässt grüßen!) in London entwickelte. Die Realität übertrifft zwar meistens die ohnehin schon überhöhte literarische Satire. Aber ähnlich wie in Evelyn Waughs gesellschaftskritischen Romanen („Scoop“, „Vile Bodies“) steckt auch in diesem herrlichen Opus eine aggressive, bitterböse Portion Sarkasmus sowie eine vernichtende Kritik am eitlen, aufgeblasenen Politkasten-System, einem unfähigen Sicherheitsapparat und einem hyperventilierenden Medienzirkus hinter dieser auf den ersten Blick harmlos anmutenden Groteske.

Die im Buchtitel angesprochenen lüsternen 72 Jungfrauen sind die erotisch aufgeladenen bekannten Trostpreise, die islamistischen Selbstmordattentätern ihren Exitus versüßen sollen – es geht hier also um die Post-Nine-Eleven-Periode, um Anti-Bush-Demos und Proteste gegen den Irak-Krieg.

So schlampig-schusselig wie der Autor selbst geriert sich hier die Hauptfigur Roger Barlow, konservativer Londoner Parlamentsabgeordneter. Ausgerechnet während des Besuchs des US-Präsidenten in London mit einer großen Festversammlung in der Westminster Hall droht Barlows neueste Love Affair zum peinlichen Medientribunal zu werden. Eine Klatsch-Reporterin will alle unerquicklichen Details enthüllen, dann soll er noch schnell eine Rede halten – es ist alles extrem hektisch und chaotisch, es geht drunter und drüber und führt zu Konflikten, in denen die Dispute zwischen britischen und amerikanischen Sicherheitskräften trotz einiger skurriler Effekte immer einen realistischen Hintergrund haben. Seine attraktive amerikanische Assistentin Cameron, ein naives Dummchen, hat sich von Barlow Passierscheine für ein dubioses arabisches TV-Team geben lassen, das im geklauten Krankenwagen vor dem Parlament vorfährt, dann aber ganz andere Absichten hat, als mit einer Live-Übertragung aus Westminster Hall die Segnungen der Demokratie zu verherrlichen. Dieses Quartett dilettierender Terrorbuben macht alle hochkarätigen Establishment-Vertreter lächerlich, obwohl es auch unberechenbar und gefährlich ist.

Gut, „Bojo“ driftet mitunter in slapstickartige Szenen ab, er wirkt mitunter auch etwas zu fixiert auf kunsthistorisch-klassische Exkurse, wenn es um Baustil, Dekorationen oder um historische Figuren geht. Aber er ist schließlich klassischer Philologe (Old Etonian und Oxford-gestählt) und zelebriert einen so lockeren, brillanten Stil und perfektioniert die hohe Kunst der Selbstironie mit einem so betörenden, ätzenden Parlando, dass man ihm seine „License to Thrill and to amuse“ sofort unbegrenzt verlängern möchte.

Boris Johnson beherrscht, wie weiland Monty Python, die Kunst subversiver Satire absolut meisterhaft. Er verhöhnt den allseits obwaltenden Lemming-Faktor innerhalb der herrschenden Politkaste, er mokiert sich über geklonte Ärmelschoner in den Amtsstuben und schließlich auch über den Typus eines exzentrisch-elitären Abgeordneten, den er selbst repräsentiert. Aber wenn er etwa die knorrige, kapriziöse Oberhaus-Lady Elspeth Baronesse Hovell als „alte Eisenhose“ apostrophiert und sie mit politisch unkorrekten Etiketten ironisch ausgrenzen will als „fundamentalistische Geißel der Schwulenlobby, Abtreibungsverabscheuerin, Verfechterin körperlicher Züchtigung (liebevoll verabreicht) und die einzige Politikerin irgendeiner Partei, die sich traute, in Frage zu stellen, ob es Aufgabe des Finanzministeriums sei, Frauen durch steuerliche Anreize aus ihren Jobs zu locken“ – dann ahnt man schon: Solche Quertreiber mit Mumm sind ganz nach seinem Geschmack. Gedankenloses, dogmatisch verabreichtes Mainstream-Gutmenschentum, das war schon immer „Bojos“ Maxime, dominiert eh schon überall.

„72 Jungfrauen“ dürfte sich für manche Leser als echter Härtetest herausstellen: Denn manche Szenen sind so grotesk, brillant und voll ätzender Komik, dass man diesen grandiosen Roman schließlich hechelnd und ziemlich atemlos beiseitelegt. Ja, Satire kann subversiv sein, aber auch so beängstigend realistisch. Schade, dass es nicht mehr die uralten, ersten Olympischen Spiele mit Disziplinen wie Dichtkunst und Musik gibt. Sonst würde ich den fabulösen Romancier Boris Johnson sofort ermuntern: „Go for Gold, Boris!“

Peter Münder

Boris Johnson: 72 Jungfrauen (Seventy-Two Virgins, 2004). Roman. Aus dem Englischen von Juliane Zaubitzer. Haffmans & Tolkemitt Verlag 2012. 412 Seiten. 19,95 Euro.
Boris Johnson: Johnson´s Life of London: The people who made the city that made the world. London 2012.
Foto: John Hemming, auf Wikimedia Commons.

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