Kluges Navi durch ein Riesenreich
China als Gastland der Buchmesse – das scheint vor allem Ärger und Eiertänze zu produzieren. Glücklicherweise aber auch schöne Bücher wie dieses. Die Auszeichnung „Suggestivstes Cover“ trüge es mit Leichtigkeit davon. Aber drin steckt auch eine Menge, findet Gisela Trahms.
Auf 300 Seiten wird uns ein Streifzug durch 3000 Jahre chinesischer Literatur geboten. Kühn, denkt der Skeptiker, und natürlich ist es leicht, ein solches Unternehmen zu bekritteln. Der unbefangene Leser jedoch wandert mit Gewinn durch diesen Garten.
Er wird eröffnet mit Gedichten, was seine Berechtigung hat. Denn jene, die es wissen müssen (Wolfgang Kubin beispielsweise, wohl der beste deutsche Kenner chinesischer Literatur), halten dafür, dass die Lyrik die Gattung sei, in der die fernöstlichen Dichter brillieren. Am besten schlägt man sofort die Seite 18 auf, wo ein kurzes Gedicht im Original, also in den dekorativen Schriftzeichen, ihrer latinisierten Umschrift sowie in englischer und deutscher wörtlicher Übersetzung wiedergegeben ist. Auf der Nachbarseite dann zwei Nachdichtungen, eine von Bertolt Brecht. Eindrucksvoll wird hier demonstriert, wie grundlegend die Sprachstrukturen völlig andere Regeln des lyrischen Sprechens erzeugen. Daher wecken jene Übersetzungen, die den chinesischen Text sozusagen einbürgern wollen, eher Zweifel, im Gegensatz zu denen, die ihm Freiheit und Vieldeutigkeit belassen.
Während die Lyrik erstaunlich erdenfest daherkommt, bieten die folgenden Romanauszüge jene Poesie, die westliche Leser von östlicher Literatur erwarten. Da erscheint die „Fee des schreckhaften Erwachens“ (ist das nicht bezaubernd?), und die anmutigen jungen Frauen des „King Ping Meh“ heißen Goldlotos oder Blaujuwel. Ohne Prüderie und ausführlich wird berichtet, wie der reiche Hsi Men sein Begehren stillt, mal mit dieser, dann mit jener, und zwischendurch große Becher Fünfdüftewein trinkt. Der Roman, ein Klassiker der erotischen Literatur, entstand Anfang des 17. Jahrhunderts, zu einer Zeit also, da man sich in Europa der Religion wegen die Schädel spaltete, und gern gibt man zu, dass Hsi Men seine Tage sinnvoller nutzte.
Das bedeutet natürlich nicht, dass die chinesische Geschichte frei von Kriegen, Machtkämpfen und Grausamkeiten verlaufen wäre. Exemplarische Erzählungen aus mehreren Jahrhunderten illustrieren, wie offen oder verschlüsselt die Literatur auf gesellschaftliche Zustände reagierte. Die Geschichte der Frau Yü, deren einziger Sohn plötzlich verhaftet und hingerichtet wird, rührt unmittelbar an unser Empfinden. Da ist plötzlich alle Fremdheit fort.
Überblick über Geschichte und Kultur
In zwei informativen und anregenden Essays, die speziell für diesen Almanach verfasst wurden, erhalten wir einen Überblick über die jüngste Geschichte des Riesenreichs und seine Kultur. Manfred Osten betont, wie sehr das Erlernen der Schriftzeichen (man muss etwa 6000 kennen, um eine Zeitung zu lesen) den Verstand fördere. Das mag ja sein, aber die Genialität des Alphabets, die dem Europäer diese Mühe erspart, kann doch wohl gegenhalten. Und das Bestreben chinesischer Eltern, das (einzige) Kind schon vor dem Kindergarten auf Erfolg zu trimmen, verdient kein Preislied, eher kritische Distanz. Aufschlussreich und Verständnis fördernd sind aber die Erläuterungen, wie sehr sich Chinas politische Klasse auf die Gedankenwelt von Konfuzius stützt (ein ganzes Kapitel des Almanachs widmet sich dessen und anderen Weisheitslehren).
Dem, der nach Osten schauen will, schärft der Almanach den Blick. Merkwürdiges, Grässliches, Blumiges ist zu erkennen. Manches bleibt rätselhaft. Und manches ist ganz nah: „Den Schirm aus Ölpapier aufgespannt, allein / mit meiner Unruhe in einer endlosen, endlosen / und verlassenen Regengasse, hoffe ich eine Frau zu treffen, / die wie der Flieder / ihre Wehmut trägt.“
Gisela Trahms
China. Insel-Almanach auf das Jahr 2009.
Hg. v. Christian Lux und Hans-Joachim Simm.
Frankfurt a. M.: Insel Verlag 2009. 306 Seiten. 12,80 Euro.