Geschrieben am 13. Februar 2004 von für Bücher, Litmag

Christina Chiu: Schwarze Schafe und andere Heilige

Wunderbare „short cuts“

Christina Chiu hat ihre short cuts mit traumwandlerischer Sicherheit und vielen Überraschungen komponiert und zieht den Leser tief in die Lebens- und Liebesgeschichten ihrer Protagonisten

Christina Chiu könnte zu den aufregendsten Entdeckungen der noch jungen literarischen (Herbst-) Saison zählen: In ihrem Debut erzählt sie in elf kunstvoll miteinander verbundenen „short cuts“ aus dem Leben von drei chinesischen Familienclans, die zwischen Hong Kong und New York beheimatet sind – ihr Ton ist dabei ebenso melancholisch wie hochpoetisch: „Versprengte Wolken treiben dahin wie traurige Gefühle.“

Der Erzählkosmos der als Tochter chinesischer Einwanderer in Manhattan geborenen Autorin ist von einer beeindruckenden Spannweite. Er birgt, wie es in einem buddhistischen Koan heißt, „die Welt in einem Sandkorn, einen Berg in einer Mohnblüte“ und ist bevölkert mit den verschiedensten Schicksalen, Generationen und Kulturen. Jede von Chius Geschichten wird von einem anderen Mitglied der verflochtenen Familienclans erzählt: Von der Greisin Tai Tai, dem jungen Straßenkid Eric, dem Tycoon Henry Wong II oder der flatterhaften Amy. Ihre Ich-Erzähler zeichnen sich dabei unterschiedslos durch einen beeindruckend authentischen Ton aus – sei er nun elegisch, lakonisch, cool oder obszön.

Zum Auftakt von Chius Debut lernen wir die junge Außenseiterin Laura kennen, die seit dem Tod ihrer geliebten Großmutter auf der Kippe steht: Weder in der traditionsbewussten Familie noch in der Schule hält sie es aus, Trost findet sie allein noch bei ihrem schweigsamen Goldfisch Yu oder in Shakespeares „Romeo und Julia“. Doch dann rauft sie sich mit ihrer Nachbarin Sarah zusammen, von der wir zum Ende des Buches erfahren müssen, dass sie in Curt Cobain-Manier Selbstmord begangen hat. Laura dagegen treffen wir schon am Rande der nächsten Geschichte wieder – und zwar als todessehnsüchtige Bulemie-Patientin der hoffnungsvollen Ärztin Georgianna Wong – deren „gewaltiger Fehler“ besteht aus Sicht des Clans jedoch darin, „dass sie einen Schwarzen geheiratet hat.“

Unter den Vorzeichen von Liebe, Abschied, Trauer und Hoffnung streifen, kreuzen und trennen sich bei Christina Chiu die Menschen in einem faszinierenden Reigen: „Für den Bruchteil einer Sekunde waren wir – Fremde und doch wieder nicht – verbunden und am Beginn von etwas, auch wenn wir nicht genau wussten, wovon.“ Besonders reizvoll ist so auch die Geschichte des jungen Rabauken Eric, der seinen Nachbarn, den alten Lao Gong mit einem Bierdosenwurf vom Dach des Elternhauses verletzt hat. Eric wird als Strafe zur Pflege dieses alten Mannes verdonnert, der in einem Meer alter Zeitungen wohnt und so die Geschichte seiner Jugend ein zweites Mal erlebt – und ganz vorsichtig kommen sich diese beiden so unterschiedlichen Typen nun näher.

Christina Chiu beendet ihr Debut mit einem Finale von Shakespearscher Tragik: Laura ist nun mit dem Ganoven Seymour, einem Jugendfreund von Eric, zusammen. In Form eines großen grünen Jadesteins, dessen Herkunft eine große Überraschung birgt, bebt das Glück – doch dann stürzt alles zusammen und „Bao ying“, der Preis, muss bezahlt werden: „Alles verloren, alles gefunden.“

Christina Chiu hat ihre short cuts mit traumwandlerischer Sicherheit und vielen Überraschungen komponiert und zieht den Leser tief in die Lebens- und Liebesgeschichten ihrer Protagonisten. Zur Zeit schreibt sie, ausgehend von einem der hier versammelten short cuts, an ihrem ersten Roman – und auf den dürfen wir nun in höchster Spannung warten.

Karsten Herrmann

Christina Chiu: Schwarze Schafe und andere Heilige. DuMont, 300 S., 19,90 Euro. ISBN: 3-8321-7801-5