Ein Leben auf der Kippe
Mit schockierender Wucht und autobiographischer Färbung zeigt Daniel Grey Marshall, wie Kids im Strudel von Sucht und Gewalt untergehen.
Nachdem der jungen deutschen Literatur etwas die Luft ausgegangen ist, halten die Lektoren und Verleger hierzulande offensichtlich wieder verstärkt in den USA Ausschau nach vielversprechenden Debütanten. Einer von ihnen ist der heute fünfundzwanzigjährige Daniel Grey Marshall, der mit „No Exit“ eine autobiographisch gefärbte Geschichte vom Erwachsenwerden auf der Schattenseite des Glücks vorgelegt hat.
Sein (Anti-)Held, der fünfzehnjährige Jim, wächst in einer zerrütteten Mittelklassefamilie auf, die vom Vater – „ein schrecklicher, absurder, gewalttätiger Schwächling“ – terrorisiert wird. Je heftiger die Schläge, desto näher rückt Jim mit seiner älteren Schwester Mandy zusammen und desto eisiger wird sein Lächeln, das er seinem Vater entgegenschleudert. Zusammen mit Mandy sowie seinen Freunden Jeremy und Philly hängt er ab, klaut, raucht, trinkt und sucht verzweifelt nach „einem kleinen Fetzen Poesie“ in seiner grauen und erschreckenden Welt.
Alle Grenzen werden überschritten
Jims Leben steht schon auf der Kippe, als die Katastrophe hereinbricht: Seine Schwester stürzt sich vor einen Zug und erst viel später wird ihr Bruder den schrecklichen Grund dafür in ihrem Tagebuch finden. Zusammen mit seinen Freunden stürzt Jim brutal ab. Im ständigen Suff und später auch Drogenrausch werden alle Grenzen überschritten, und die Tragödie endet in einem blutigen Show-down.
Daniel Grey Marshall, der selbst schon in früher Jugend in die Sucht abrutschte und auf der Straße landete, erzählt in knappen, einfachen, vom cool-kindlichen Slang geprägten Sätzen. Authentisch und mit schockierender Wucht zeigt er, wie seine Helden, die eigentlich noch Kinder sind und nach Liebe und Verständnis suchen, in einem Strudel aus Sucht und Gewalt (fast) untergehen. Allerdings hätte der Geschichte eine radikale Kürzungskur gut getan – denn viel der dramatischen Spannung und Dynamik versackt im ganz banalen, alltäglichen Nonsens von Heranwachsenden.
Karsten Herrmann
Daniel Grey Marshall: No Exit. Aus dem Amerikanischen von Friederike Levin. Reclam 2003. Gebunden. 348 Seiten. 18,90 Euro. ISBN 3-379-00807-9