Kosmopolitische Geschichten
David Mitchells „Chaos.“ – voluminöse Story-Sammlung oder das Modell für die Literatur des 21. Jahrhunderts?
Die englische Literatur ist reich gesegnet mit schreibenden Kosmopoliten und Wanderern zwischen den Kulturen wie Salman Rushdie oder Hanif Kureishi. Mit einem rund um den Globus führenden „Roman in neun Teilen“ gesellt sich nun der junge David Mitchell aus entgegengesetzter Richtung hinzu.
Der 1969 in Lancaster geborene Mitchell lebt heute als Universitätsdozent in Hiroshima und so spielt auch die Auftaktgeschichte in seiner neuen japanischen Wahlheimat. Aus der Ich-Perspektive erleben wir einen japanischen Sektierer, der – in Analogie zur Aum-Sekte 1995 – in einer Tokioter U-Bahn ein Giftgasanschlag verübt hat und sich nun auf der Flucht befindet: „Es war meine Aufgabe, alleine am Rand des Universums der Gläubigen zu stehen und in der Finsternis zu pulsieren. Ich bin ein Vorreiter. Ein Herold.“
Jazz, Giftgas und Quantenphysik
Die weiteren Stationen führen uns dann über einen jungen japanischen und vom Jazz beseelten Plattenverkäufer in Tokio, einen kriminellen Börsenmakler in Hong Kong, einen mongolischen Geist und eine Kunstfälscherbande in Petersburg, um schließlich in London und in der New Yorker „Beat Segundo Radio Show“ zu landen.
Eine der stärksten Episoden erzählt dabei die Geschichte der Quantenphysikerin Mo Muntervary, deren Forschungen für Rüstungsprojekte missbraucht werden sollen und die durch die halbe Welt zurück in ihre Heimat, die winzige irische Insel Clear Island, flieht. Hier, in grüner Idylle und umgeben von raubeinigen Freunden, schlägt sie den Mächtigen und bösen Mächten dieser Welt ein Schnippchen, indem sie nicht nur eine intelligente, sondern, wie es erst der atomare Ernstfall erweisen wird, auch moralische Bombe entwickelt.
Bei Mo Muntervary und der Quantenphysik laufen auch viele Fäden dieses, so der Klappentext „auf raffinierte Weise vernetzten Romans“ zusammen, in dem Menschen, Kulturen und Denkweisen aller Facetten sich berühren, verbinden und wieder abstoßen: „jeder von uns ein frei schwebendes Teilchen, eine unendliche Zahl von wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Wegen.“
Doch leider bleibt die Vernetzung dieser aus der Ich-Perspektive und in changierenden Sprachstilen zwischen naiv, cool, romantisch-poetisch oder mythisch geschriebenen Prosa-Teilchen nur oberflächlich und kontingent. So bietet „Chaos“ letztlich weniger das Modell für die Literatur des 21. Jahrhunderts wie der englische „The Guardian“ lobte, sondern weitgehend nur eine voluminöse Story-Sammlung von sehr unterschiedlicher Qualität und Spannung.
Karsten Herrmann
David Mitchell: Chaos. Ein Roman in neun Teilen. Aus d. Engl. v. Volker Oldenburg. Rowohlt 2004. Gebunden. 592 Seiten. 24,90 Euro.