Dr. Mabuse lebt
Verschwörungstheorien und Terrorszenarios haben seit den Anschlägen vom 11. September Hochkonjunktur und finden zunehmend auch in der Literatur Widerhall. David Zeman liefert in seinem Debüt „Das Pinocchio-Syndrom“ dafür ein hochbrisantes, wenn auch literarisch nicht gerade überzeugendes Beispiel.
Schon der Prolog ist ein Paukenschlag: Ein Kreuzfahrtschiff voller hochbegabter amerikanischer Jugendlicher wird von einer Rakete mit Atomsprengkopf vernichtet. Kurze Zeit später bricht eine rätselhafte Krankheit aus, bei der die Betroffenen wie zu Stein erstarren und nach monatelanger Leidenszeit versterben. Der amerikanische Vizepräsident ist eines der ersten Opfer. Alles deutet auf islamischen Terrorismus und „eine allgemeine Angst, wie seit der Kubakrise nicht mehr, hatte die Amerikaner erfasst“.
Schrei nach Rache
Das Land schreit nach Rache und diese aufgeheizte Stimmung nutzt der größenwahnsinnige Milliardär und Präsidentschaftskandidat Colin Goss mit platter Demagogie aus. Er ist die Spinne im Netz, ein Dr. Mabuse, der die Fäden auf unvorstellbar perfide Weise in der Hand hält und mit dunklen Machenschaften nach der (Welt-) Herrschaft greift. Seine zentralen Mit- und Gegenspieler sind der junge und talentierte Demokrat Michael Campbell, der Secret-Service-Mann Joseph Craig und die Journalistin Karen Embry. Durch ihre hartnäckigen Recherchen nimmt das unvorstellbar Böse langsam Gestalt an, und es zeigt sich, dass „manchmal die wildeste Vermutung nicht so abwegig ist wie die Wahrheit“.
Verbrechens- und Verschwörungspuzzle
David Zeman schreibt straight, plakativ, ohne Zwischentöne und manchmal hart am Rand des Trivialen. „Das Pinocchio-Syndrom“ ist daher nichts für literarische Feinschmecker. Es bietet jedoch Hochspannung pur und lebt von der virulenten Thematik sowie einem fantasievoll ausstaffierten Szenario. Geschickt setzt Zeman dabei aus vielen verschiedenen Einzelteilen ein schockierendes Verbrechens- und Verschwörungspuzzle zusammen, bei dem nichts so bleibt, wie es zunächst erscheint – und was vor dem 11. September noch als abwegiger James-Bond-Trash gegolten hätte, bekommt nun einen beängstigenden Realitätsgehalt.
Karsten Herrmann
David Zeman: Das Pinocchio-Syndrom. Aus dem Amerikanischen von Hans-Peter Kraft. C. Bertelsmann 2004. 540 Seiten. 22,90 Euro. ISBN 3570008118
Zum Autor:
David Zeman unterrichtet an der Yale University und veröffentlicht regelmäßig Aufsätze über philosophische Themen. Er lebt mit seiner Familie in Washington.