Rettung durch Musik
– Teleportation, Gedankenübertragung, Überwindung des Todes: In der Welt dieses Romans ist wenig vergleichbar mit der heute bekannten Welt, und doch kommen uns die Probleme der Protagonisten zeitweise sehr bekannt vor. Kein Wunder – er handelt ja auch von uns. Von Tina Manske
Gut, dass dieses Buch NICHT den deutschen Buchpreis gewonnen hat, auf dessen Shortlist es stand. Es ist nämlich anzunehmen, dass man die Menschen, die es tatsächlich bis zu Ende gelesen haben, an einer Hand abzählen kann. Übrigens wahrscheinlich auch diejenigen, die es in Zukunft noch bis zu Ende lesen werden. Das ist nicht schlimm, da aber unter den zuerst erwähnten Leuten sich auch viele Rezensenten und – vermutlich – Mitglieder der Buchpreis-Jury befinden dürften, ist es doch angemessener, dass sie dem aktuellsten Dath to date„Die Abschaffung der Arten“ nicht blind zu einem Ruhm verholfen haben, den es nicht verdient. Weil es einen ganz anderen, besseren Ruhm verdient hat.
Dath, der Technikfreak und autor mathematicus, hat einen Roman über die Zukunft der Menschheit geschrieben, in dem diese nur noch als Erinnerung vorkommt – und die Zeit ihrer Regentschaft, also das, was wir hier gerade noch erleben, aussagekräftig „Langeweile“ heißt. Weit entwickelte Wesen bevölkern die Erde, bis sie ausgerottet werden bis auf einen kleinen Haufen, der auf den Mond flieht. Erst werden der, dann Mars und Venus bevölkert, Wettstreite entbrennen, Kriege werden ausgetragen.
Wo andere Schriftsteller eine Meinung haben, mit der sie sich im Recht sehen, oder ein Leben führen in Prenzlauer Berg, das sie für mitteilenswert halten, oder – im schlimmsten Fall – beides gleichzeitig, hat Dietmar Dath Fantasie, Grips und den Mut, sich zum Schöpfer ungeheurer Welten zu machen. Der Buchumschlag spricht großkotzig von einer Tradition von Jules Verne über H. G. Wells bis hin zu William Gibson, in die sich Dath mit seinem Roman einreihe. Tatsächlich ist es damit noch nicht getan. Dath wäre nicht Dath, würde er sich mit einer Tradition jenseits von TV und Kino zufrieden geben – daher reiht sich Die Abschaffung der Arten gleich noch ein in eine Linie von Charlie Chaplin über Stanley Kubrick bis hin zu Ridley Scott et al.
Mischung aus wissenschaftlicher Abhandlung, Popkritik, Liebesroman und politischem Manifest
Das alles ist geschrieben im typischen Dath-Ton: dieser Mischung aus wissenschaftlicher Abhandlung, Popkritik, Liebesroman und politischem Manifest. Karl Marx sollte also in der erwähnten Ahnenreihe auch nicht unerwähnt bleiben, denn Dath ist ein politischer Schriftsteller. Eine Meinung hat er eben auch, und sie ist garantiert nicht identisch mit dem Glauben, dass der freie Markt schon alles richte. Eher schon die Liebe. Morphologie ist – in vielen Facetten – Thema des Buches. Lebensformen verändern sich, Wesen wechseln ihr Geschlecht, Dachse werden zu Autokarosserien, Füchse zu Kaffee, Orang Utans zu gigantischen Monstern, die dank Mutation nicht mehr am Missverhältnis zwischen Masse und Volumen scheitern (King Kong R.I.P.!). Teleportation, Gedankenübertragung, Überwindung des Todes: In der Welt dieses Romans ist wenig vergleichbar mit der heute bekannten Welt, und doch kommen uns die Probleme der Protagonisten, selbst wenn wir uns ihre Gestalt schwer vorstellen können, zeitweise sehr bekannt vor. Kein Wunder – er handelt ja auch von uns.
Leuchtende Visionen
Übrigens muss man das Buch nicht am Stück lesen, um trotzdem sehr viel daraus zu gewinnen. Immer wieder blitzen zwischen den ausschweifenden Labermeeren kleine Inseln der Erkenntnis und des Humors auf, für die es sich abzustrampeln lohnt. Was Dath bei aller verspielten Technikfasziniertheit, die leicht ins Seminarhafte abdriften könnte, so grundsympathisch macht, ist zum Beispiel sein unbedingter Glaube (ja, Religion findet hier auch statt) an die Rettung der Welt durch Musik. „Was du am ersten Tag gehört hast, was dich auf den Boden geworfen hat, war das Gesamtwerk von Gustav Mahler, in eine Femtosekunde [der milliardste Teil einer Sekunde, T. M.] eingedreht,“ erklärt die Komponistin Cordula Späth (NATÜRLICH ist diese Dathsche Figurenkonstante auch hier wieder dabei). Welch herrliche Subversivität: In welchen Romanen anderer deutscher Schriftsteller (oder überhaupt) ist der einzige freie Mensch („was, das die Welt noch nicht gesehen hat“) eine lesbische Künstlerin? Und wessen Plot sonst beruht auf der Frage, „ob man aus zwei homosexuellen Pärchen, einem glücklichen und einem verfehlten, eine planetenweite Zivilisation machen kann“?
So wie die Augen des Tieres auf dem Umschlag, so leuchten auch Daths Ideen und Visionen noch lange nach Zuschlagen des Buchdeckels, weil sie – bei aller Genrehaftigkeit dieses Romans – einer Wahrheit nahekommen, die andere Schriftsteller noch nicht einmal angefangen haben zu formulieren. Wir brauchen mehr dieser Bücher, die etwas wagen, statt nur zu wiegen.
Tina Manske
Dietmar Dath: Die Abschaffung der Arten. Roman. Suhrkamp Verlag 2008. 552 Seiten. 24,80 Euro.