Ein Kanon im Remix
Wir leben in einer unübersichtlichen Zeit, in der die Informationsfluten ständig weiter anschwellen und die letzten wegweisenden Leuchttürme schon längst versunken sind. Dankbar greifen wir daher nach Strohhalmen die ein wenig Halt und Orientierung zu bieten versprechen – und dementsprechend hat die Kanonbildung auch in der Belletristik wieder Konjunktur: Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki versammelt unter dem nicht unbescheidenen Titel „Der Kanon“ die Creme de la Creme der deutschen Romane von Goethe bis Musil und seine Kollege Joachim Kaiser stellt in seinem „Buch der 1000 Bücher“ Werke vor, die, so der Waschzettel, „von Generationen von Lesern verschlungen wurden und bis heute Maßstab geblieben sind.“
Mit einer „letzten Inventur vor dem Ausverkauf“ mag da nun auch der französische Skandal-Autor und Star-Kritiker Frédéric Beigbeder nicht nachstehen und kommentiert in einem schmalen Bändchen augenzwinkernd die „fünfzig besten Bücher des 20. Jahrhunderts“. Die Auswahl erfolgte dabei allerdings nicht nach seinem eigenen, durchaus exzentrischen Geschmack, sondern ist das Resultat einer repräsentativen „Le Monde“-Umfrage. So hat sie naheliegender Weise auch eine starke Schlagseite hin zu französischen – und hierzulande teilweise nur wenig bekannten – Autoren, doch selbstverständlich sind auch die anglo-amerikanischen Klassiker wie Steinbeck, Hemingway, Orwell oder Joyce vertreten. Der am besten platzierte deutschsprachige Autor ist erstaunlicherweise – und weit vor Thomas Mann (Nr. 40), Sigmund Freud (Nr. 25) oder Anne Frank (Nr. 19) – Franz Kafka mit seinem klarsichtig-albtraumhaften „Prozess“. Er nimmt den stolzen dritten Platz ein und wurde nur knapp von den französischen Nationalheroen Proust und Camus abgefangen.
Wie nun nicht anders zu erwarten, lässt es Beigbeder an jeglicher Ehrfurcht vor den „Top 50“ fehlen. Mit einem „naiven Enthusiasmus“ zerrt er sie aus ihren hehren hermeneutischen Höhlen und legt den popkulturellen Schleudergang ein. Vom alten Mief befreit kann uns nun Claude Levi-Strauss als „eine Art strukturalistischer Indiana Jones“ erscheinen und die Lektüre von André Bretons „Nadja“ (Nr. 50) wirken „als rauchte man einen dicken Joint“. Frédéric Beigbeder bietet aber nicht nur plakativ-provokative Vergleiche, flapsige Einwürfe und spitze Bonmots, sondern auch lockere inhaltliche Einführungen, literarhistorische Einordnungen und persönlichen Würdigungen der Werke. Immer wieder lässt er seine Begeisterung für die Literatur spüren – so etwa, wenn er Apollinaires Poesie als „ein Wortalkohol, ein sprachliches Trinkgelage, ein Exzess des Vokabulars, eine semantische Orgie“ beschreibt, welche die gesamte avancierte Lyrik des 20. Jahrhunderts vorweggenommen hätte.
Mit Esprit, Nonchalance und einer ordentlichen Portion Schaum vorm Bug pflügt Frédéric Beigbeder flott durch die Meisterwerke des 20. Jahrhunderts. Neben dem rein ästhetischen Genuss weist er diesen Büchern in einer Zeit, in der „der Mensch lächelnd seinen Untergang organisiert“, auch noch einen rettenden Mehrwert zu – denn, so fragt er rhetorisch, was seien sie letztlich anderes „als praktische Ratgeber, die uns lehren, zu leben…?“
Karsten Herrmann
Frédéric Beigbeder: Letzte Inventur vor dem Ausverkauf. Die fünfzig besten Bücher des 20. Jahrhunderts. Rowohlt, 170 S., 16,90 Euro. ISBN: 3498006258