Geschrieben am 5. Dezember 2012 von für Bücher, Litmag

Freie Feder – Plume Libre: Lesebühnenliteratur aus Abidjan

Was bleibt, sind Fragezeichen und die Freiheit

– Lesebühnen: Sie schießen aus dem Boden wie Unkraut, überwuchern ganze Stadtteile und geben Raum für jedermann. Bei den vorgetragenen Texten schwankt der Zuhörer oft zwischen peinlich berührt, nett unterhalten und gepackt. Es gibt Lesebühnen, die einen mehr packen als andere, doch das Konzept ist immer ähnlich: Sie sollen ein Sprungbrett sein, sind allzu oft jedoch ein Augenöffner, für den Zuhörer und den Lesenden. Ähnlich ist es bei der Lesebühne „Freie Feder – Plume Libre“.

Dass es in Berlin eine Lesebühne gibt, wird niemanden überraschen: „Nur eine?“, ist die wahrscheinlichere Reaktion. Dass es jedoch in der Elfenbeinküste eine Lesebühne gibt, lässt aufhorchen und macht neugierig.

Tatsächlich ist es eine Partnerlesebühne der Berliner Reformbühne „Heim & Welt“, die im November 2009 mit Hilfe von Stefanie Kastner und Falko Hennig am Goethe-Institut in Abidjan gegründet wurde und von vorwiegend jungen deutschlernenden Ivorern besucht wird. Einmal im Monat lesen die ivorischen Autoren ihre Texte und Lieder, die Berliner veranstalten in regelmäßigen Abständen Workshops, das Ergebnis des letzten „Vom Manuskript zum Buch“ liegt nun vor.

Die Anthologie „Freie Feder – Plume Libre“, eine Textsammlung der ivorischen Autoren.

Das Vorwort der Reformbühne verspricht: „Geschichten oder Gedichte, die uns wegen ihrer Komik oder der Stärke der Gefühle sehr nahe sind, und solche, die uns durch ihre Fremdheit neugierig machen.“ Große Vorschusslorbeeren und ein Anspruch, dem die Texte dieses Sammelbands gar nicht gerecht werden können. Wer eine besonders ausgefeilte literarische Sprache, beeindruckende Bilder oder tiefgehende Gefühle erwartet, wird größtenteils enttäuscht werden – typisch für die Texte vieler Lesebühnen.

Doch wer bereit ist, sich auf „Fremdheit“ und „Anderes“ einzulassen, wird einen breit gefächerten Einblick in das Leben der Côte d’Ivoire bekommen. In einen schweren Weg und den Kampf darum, zur Schule gehen zu dürfen, überleben zu können, Mensch zu sein. Er wird eine Kultur kennenlernen, die durchaus auch literarisch Wertvolles zu bieten hat. Aber vor allem zeigen die Texte, dass diese Literatur vollkommen anders ist, als das, was der deutsche Leser erwarten wird.

Alle Geschichten und Gedichte finden sich im Original – verfasst in Französisch – und in der deutschen Übersetzung, die den sprachlichen Witz manches Mal nicht treffen kann.

Auf den ersten Blick findet sich also wenig Komik, dabei war sie doch versprochen?

Der Versuch, komisch zu sein, scheint sich auf Durchfall zu beschränken. So denkt Reformbühnenmitglied Falko Hennig ausgiebig über den Witz des Wortes Dünnpfiff nach, der Leser sucht den Witz und fragt sich, warum Falko Hennig eigentlich überhaupt mit einer Geschichte vertreten ist, heißt es doch im Vorwort: „Wir, die Autoren der Reformbühne, haben keine eigenen Texte beigesteuert.“ Nun ja, auch Initiatorin Stefanie Kastner hielt sich nicht daran.

Die beiden ans Ende gesetzten Geschichten (hoffte man, der Leser hätte bis dahin die Ankündigung vergessen?) unterscheiden sich deutlich vom Stil der anderen Geschichten, selbst wenn die Autorennamen nicht dabei gestanden hätten, wären sie aufgefallen. Gut, die beiden mögen als Autoren bei der ivorischen Lesebühne aufgetreten sein, dennoch verfälschen sie das Bild. Denn, so schreibt Stefanie Kastner in ihrem eigenen Vorwort über den Grund der Gründung, sie wollte jungen Ivorern, die eigene Texte verfassten, eine Möglichkeit geben, diese dem Publikum zu präsentieren. Nicht sich selbst.

Immerhin ist die Bühne mit dieser Anthologie ein gutes Stück größer geworden. Ein Stück westafrikanische Literatur, und sei es auch Laienliteratur, schwappt zu uns herüber und sucht ihren Platz. Sie wird es schwer haben, das steht fest, doch sie hat einen Platz verdient.

Nicht, weil die teils fragmentarisch anmutenden Texte literarisch besonders anspruchsvoll sind, sondern weil sie uns völlig unverfälscht eine Kultur näherbringen, die man hierzulande im TV nur verfälscht vorgesetzt bekommt.

Die Erzählungen sind nicht besser oder schlechter als das, was es auf hiesigen Lesebühnen zu hören gibt. Nur anders. Sie bieten einen breiten Querschnitt durch die literarischen Gattungen, von der Erzählung über den Romanausschnitt bis hin zum Märchen. Die Märchen sind es wohl auch, die dem deutschen Leser am befremdlichsten erscheinen, kommen sie doch, neben sprechenden Tieren, die handeln wie Menschen, auch mit einer reichlich platten Moral daher. Eine Moral, die in der Elfenbeinküste jedoch keineswegs als platt empfunden wird , sondern als Gedankenanstoß wahrgenommen wird.

Sei nicht gierig! Höre auf den weisen Mann! Denke an andere! Moralische Überzeugungen, die wir hierzulande schon vor so langer Zeit hinter uns gelassen haben, dass wir sie uns vielleicht doch mal wieder ganz platt vor Augen führen lassen sollten.

Was uns diese Anthologie ebenfalls zeigt, ist die Vielfältigkeit des subsaharischen Afrikas. Denn es gibt eben nicht „Afrika, das Land“, sondern 54 afrikanische Staaten, die sich so sehr voneinander unterscheiden, wie es die europäischen Staaten tun. Ein Fakt, der vielen ganz und gar unbekannt zu sein scheint. „Die Spannung – Le suspense“ von N’cho Elvis Geraud Merchand spielt mit dieser Diversität zwischen den Mentalitäten der Ivorer und Algerier, ein Spiel, das so viel über beide Länder verrät, dass man Lust bekommt, in den Flieger zu steigen und die Spannung auf dem Marktplatz in der Erzählung zu greifen. Eine Geschichte, die sogar mit (französischem) Sprachwitz daherkommt, die sprüht und Lust auf mehr macht.

Mit ihrer Qualität stechen zwei Gedichte heraus. Eines verfasste der Germanistikstudent Aka H. Joel, eins stammt aus der Feder von Franz de Bebon. Die Werke mit den Titeln „Ungerechtigkeit – Injustice“ und „Eines Tages! – Un jour!“ tragen eine lyrische Kraft in sich, die packt. Sie stellen die Frage nach der Gerechtigkeit im Land. Reiche, die immer reicher werden, Arme, die für ihr Armsein auch noch verachtet werden. Sie suchen nach der Einheit. Dem einzigen Schrei der Menschheit, durch den das Geld entthront sein wird.

Ein Kampf gegen Windmühlen, der gekämpft werden muss.

Ein Kampf, der in der Elfenbeinküste auf ganz besondere Weise geführt werden muss. Denn diese Autoren haben mit einer Form von Korruption zu kämpfen, die menschenverachtend ist. Sie kämpfen mit ihren Gedichten einen Kampf, der das Leben eines ganzen Kontinents bestimmt, denn niemand ist reicher als afrikanische Präsidenten, und niemand ist ärmer als ein Großteil des afrikanischen Volkes. Umso wichtiger ist es, denen, die sich trauen, diese – man mag es gar nicht Missstände nennen, denn es ist eine tiefe strukturelle Ungerechtigkeit – anzuprangern, ihnen eine Bühne zu geben. Und Ihnen gebührt die größtmögliche Bühne und darin liegt, neben der zwischen Kulturen vermittelnden Funktion, schließlich auch das Hauptverdienst der Anthologie und der unterstützenden Arbeit der Berliner Reformbühne.

Den Abschluss der Anthologie bilden die Autorenbiografien und eine CD, die einen Mitschnitt eines ivorischen Lesebühnenabends enthält. Ein Gimmick, das den Charme des Buches abrundet und den Leser endgültig aus dem heimischen Sofa ins ivorische Goethe-Institut versetzt.

Lesen verbindet – hier sogar Kontinente. Wer sich auf die Texte einlässt, seine deutschen Schablonen in den Müll schmeißt und die geistige Reise mit den Autoren antritt, wird Spaß haben, weinen, sich wundern und vielleicht auch mal lachen. Was vielleicht bleibt, ist ein Fragezeichen, Empörung, die aus Unverständnis resultiert – und Verwunderung. Dann sollte man das Buch zur Seite legen, die Worte durch seinen Kopf rollen lassen und ihren Sinn in den ivorischen Kontext einbetten. Dann – ja nur dann – wird vor allem eins bleiben:

„Un jour s’entendra de toute l’humanité; Un seul cri qui dira: je veux la liberté.“ (Eines Tages vernimmt man einen einzigen Schrei der gesamten Menschheit; Der sagen wird: Ich will Freiheit.).

Sophie Sumburane

Freie Feder – Plume Libre: Lesebühnenliteratur aus Abidjan. Hrsg. Goethe Institut Côte d’Ivoire. Voland & Quist. Buch + Audio-CD. 160 Seiten. 12,80 Euro. Verlagsinformationen mit Hörprobe.

Die Berliner Reformbühne Heim & Welt findet jeden Sonntag um 20:15 Uhr im Kaffee Burger statt, die ivorische Lesebühne einmal im Monat an einem Samstag um 14:30 im Goethe-Institut Abidjan (mehr hier).

Zur Homepage von Sophie Sumburane.

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