Das Leben nebenan
„Ich bin allein.“ Das wäre, als erster Satz eines Romans, ein aussichtsreicher Beginn. Aber als letzter Satz, so wie hier? Klingt das nicht trübselig? Überraschender Weise kein bisschen.
Von Gisela Trahms
Helmer van Wonderen, der Ich-Erzähler, ein Mann Mitte 50, ist nicht allein auf die Welt gekommen, sondern als Hälfte eines Doppelpacks, zusammen mit seinem Zwillingsbruder Henk. Äußerlich gleichen sich die beiden wie das sprichwörtliche Ei dem anderen. Schaut einer den anderen an, sieht er sich selbst. Einfühlsam, geradezu innig erzählt Bakker, wie dieses Einssein den kindlichen Brüdern zum Lebenselixier wird. Es ist ihre Freude bei allem, was sie tun (und kein Dritter ist da nötig), ebenso ihr Schutz vor dem verständnislosen, rohen Vater.
Doch so „siamesisch“ (das Wort wird mehrfach benutzt) können zwei Menschen nicht bleiben, auch Zwillinge nicht. Zuerst entwickeln sich Neigungen und Temperamente der Brüder in verschiedene Richtungen. Dann erscheint eine Frau. Und dann erscheint der Tod, und für Helmer ändert sich alles.
Das hört sich ja, mag mancher denken, ziemlich ausgeklügelt und sehr nach Melodram an. Aber auch da kann man sich täuschen. Das Milieu nämlich ist eher prosaisch und das, was passiert, zwar ungewöhnlich, aber nicht unwahrscheinlich. Schlimm (und ganz gewöhnlich) ist, dass die Dramen wortlos verlaufen. Die Menschen arbeiten sie mit der Mistgabel ab. Manchmal allerdings wollen sich die Wunden einfach nicht schließen.
Der Name des Autors verrät es schon: Wir befinden uns in den Niederlanden. Und zwar auf dem Land, das allerdings kaum noch so ist, wie Städter es sich erträumen. Längst sind auch hier die Nachbarn auf Sichtweite herangerückt, und das begehrteste Gut ist nicht die Kuh, sondern die Milchquote. Dort, wo einst der Knecht wohnte, möchte die Naturschutzbehörde ein Informationszentrum errichten und Führungen für Besucher veranstalten, um ihnen „das Land“ und seine Restfauna und -flora pädagogisch zu erschließen. Helmer sträubt sich. Wie nebenbei, aber sehr wirkungsvoll wird die Enge einer vollständig durchstrukturierten Zivilisation demonstriert, in der der Einzelne fast erstickt.
Natürlich hat Helmer noch andere, drängendere Probleme. Mit dem Vater zum Beispiel, der ihm ein Leben aufgezwungen hat, das er nicht führen wollte und doch so lange geführt hat, dass es nun zweifellos seines geworden ist. Jetzt ist der Vater alt und hinfällig, und Helmer beschließt, sich ein Stück Freiheit zurückzu-erobern. Er verfrachtet Vater und Vaterbett ins Obergeschoss, und nun ist es oben still und unten auch, bis auf die Helmer-Geräusche. Denn Helmer räumt um, streicht, kauft Neues – und bleibt doch immer gebunden an das, was war. Er lebt ja allein und kann keinen Tag weg, weil die Kühe gemolken werden müssen, Schafe, Esel und Hühner zu versorgen sind und auch dem Vater hin und wieder ein Napf mit Essen gereicht werden muss, denn er stirbt einfach nicht. Soll das nun immer so weitergehen, bis Helmer selber stirbt?
Knapp, präzise, lakonisch
Nein, nein, es passiert schon noch was, eine ganze Menge sogar. Die Vergangenheit steht auf, eine Frau kommt zu Besuch, dann ein junger Mann und schließlich ein Knecht. Dennoch ist es nicht die Story, die es in sich hat, sondern die Erzählweise.
Schon nach wenigen Seiten ist klar: Hier weiß einer, wovon er schreibt, und zwar vollständig, und er hat die passende Sprache dafür gefunden. Knapp, präzise, lakonisch. Schnitte genau dann, wenn sie wirken. Von Satz zu Satz wird der Leser mitgezogen, obwohl zunächst nichts Sensationelles geschieht. Man möchte einfach wissen, was mit Helmer los ist. Warum behandelt er den Vater so rüde und redet mit allen nur das Nötigste? Warum duckt er sich seit Jahren „unter die Kühe“?
Als das geklärt ist, erfreut man sich an der Art, wie der Autor Erwartungen unterläuft. Gewisse Situationen meint man doch aus dem Kino zu kennen: Zwei, die sich misstrauisch beäugen, werden hinterher Freunde. Die Frau, die den anderen liebte, entdeckt schließlich den einen. Und so fort. In Bakkers Buch ist es nicht so. Die Beziehungen bleiben schwierig, Missverständnisse können nicht immer aufgeklärt werden, Jung und Alt trennt eine Kluft. Komisch ist das oft, das schon, aber auch bitter. Es schmeckt jedoch nach Wahrheit.
Gegen Ende allerdings gerät das Buch ins Trudeln. Da wird zu oft wiederholt, was wir schon lange verstanden haben, nämlich wie schwierig es ist, allein und ganz zu sein, wenn man als Hälfte aufwuchs. Auch erinnert sich Helmer an manches, was er schon erzählt hat und schreibt es zur Sicherheit noch einmal hin. Sicherheit aber bekommt keiner Geschichte.
Zum Schluss brausen dann zwei Männer nach Dänemark und rauchen Halfzware Shag und baden nackt und tauschen Sätze, die sich schwer nach Kino anhören. Das macht den Leser seufzen, obwohl man Helmer die Reise von Herzen gönnt. Man hat ihn ja ins Herz geschlossen, auch wenn er plötzlich „Diese fiesen Deutschen“ sagt, einfach so, als sei das eine ewige Wahrheit. (Hört es je auf? Nein, es hört nicht auf.)
Am besten fängt man also nach dem letzten Satz noch mal von vorn an und stromert über die ersten 250 Seiten. Da gibt es Szenen, die man bestimmt nie vergisst: Wie Helmer um ein Haar in einem Graben neben der Schafweide ertrinkt. Wie ihm der Knecht das Schlittschuhlaufen beibringt. Wie in gewissen, an Knappheit kaum zu überbietenden Dialogen die Phantasie aufs Schönste angeheizt wird. Und wie immer deutlicher wird, dass nichts so exotisch und so interessant ist wie das Leben nebenan, wenn es so erzählt wird, wie es das verdient. Zonder goedpraten.
Gisela Trahms
Gerbrand Bakker: Oben ist es still. Suhrkamp 2008. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. 315 Seiten. 19,80 Euro.