Aufklärung durch Tabubruch
– Mit seinem Buch „Der Untergang der islamischen Welt“ liefert der Islamwissenschaftler Hamed Abdel-Samad nicht nur wichtige Anstöße zur Islam-Debatte, er stellt auch eine Prognose: Der Islam als politisch-kulturelles System wird untergehen Von Peter Münder.
Die Stammtischbrüder haben ihre Scheuklappen angelegt und sind mit passenden Etiketten ebenso schnell bei der Hand wie mit der Bestellung für das nächste Bier, die Multikulti-Fraktion weiß eh Bescheid und warnt vor einem diffamierenden Feindbild, selbst Orientalisten und Kulturwissenschaftler operieren mit engstirnigem Tunnelblick, wenn über den Islam diskutiert wird: Wer sich hier kritisch zu Wort meldet, wird leicht als Sarrazin-Sympathisant, plumper Pauschal-Verdammer oder reaktionärer Hetzer abgetan. Schließlich möchte jeder seine liebgewordenen Vorurteile bestätigt sehen.
Hamed Abdel-Samad, 39, als Sohn eines ägyptischen Imams in Kairo geboren, hat Englisch, Französisch, Japanisch und Politikwissenschaft studiert und war Islamwissenschaftler in Erfurt, bevor er sich entschloss, vollberuflich als Autor zu arbeiten. Sein Vater hatte ihm den Koran erklärt, den er auswendig gelernt hatte. Sein islamischer Desillusionierungsprozess begann schon in Ägypten, beschleunigte sich allerdings rasant nach der Konfrontation mit dem modernen westlichen Lebensstil: Die Gewalt in der Familie, die Unterdrückung der Frau, das unkritische Akzeptieren maroder Herrschaftsstrukturen im Namen Allahs – all das hat ihn zum entschiedenen Islam-Kritiker gemacht. Wenn er sich also mit seinem ebenso fundierten wie glänzend geschriebenen Buch in die Islam-Debatte einschaltet, sollte man eigentlich erwarten können, dass die Besserwisser und Bedenkenträger, die sich über das Propagieren eines negativen Islam-Image entrüsten, erstmal zuhören, bevor sie polemisch eine Position attackieren, die ihnen zu extrem und kritisch erscheint. Aber zehn Jahre nach den New Yorker Terrorattacken und nach dem Amoklauf eines norwegischen Psychopathen scheint diese Selbstverständlichkeit für viele Diskussionsteilnehmer schon fast schon zur Zumutung geworden zu sein.
Dabei geht Abdel-Samed einfach nur Fragen nach, die zwar offensichtlich sind, anscheinend aber auch inzwischen dermaßen tabuisiert sind, dass sie von den meisten „Experten“ in der Debatte über Wesen und Zukunft des Islam a priori ausgeblendet werden: Wie kommt es, dass der Islam zwar noch bis ins Mittelalter so eine glänzende Blütezeit erlebte, aber von den Herausforderungen der industrialisierten Moderne völlig überfordert ist und trotz der Revolten in Ägypten, Tunesien, Syrien und Libyen und einigen vielversprechenden Ansätzen für Liberalisierungsprozesse keine Antworten hat auf die brennenden Fragen der Gegenwart? Weshalb fühlen sich die meisten der 1,4 Milliarden Muslime vom Westen so häufig verletzt und diffamiert, scheinen die Lust an der Kränkung aber doch intensiv auszukosten? Warum wird der Koran immer noch als ehernes Gesetz für alle Lebenslagen verstanden, der sich jedoch als absolut reformresistent erweist, obwohl es schon viel liberalere, kritische Koran-Interpretationen vor etlichen Jahrhunderten gab?
Auch mit der „Käfighaltung“ der Frau, mit den Beschneidungsritualen und der Genitalverstümmelung bei Mädchen, der Gewaltanwendung in der Ehe usw. beschäftigt sich der mehrmals in die Deutsche Islam Konferenz berufene Deutsch-Ägypter. Sein Fazit lautet schlicht und einleuchtend: „Der Islam muss nicht verteufelt werden, er muss sich von Grund auf modernisieren“. Da er sich bestens auskennt in historischen Epochen und die Kontroversen um Reformbestrebungen und lockere Umgangsformen im historischen Kontext sieht, kann Abdel-Samed auch nachweisen, dass kritische Einwände gegen ein allzu rigides, reformresistentes Koran-Verständnis keineswegs Indizien für ketzerisches Beckmessertum sind: „In der Blütezeit des Islam zwischen dem achten und dem elften Jahrhundert war das Verfassen von häretischen Texten an der Tagesordnung. Dass Alkohol getrunken wurde und Frauen nicht das Kopftuch trugen, war keine Seltenheit. Es gab damals allein in Bagdad mehr Kneipen als heute in allen islamischen Ländern zusammen. Muslime fühlten sich so selbstsicher, dass antiislamische Polemiken von Christen und Juden toleriert wurden. Der Kalif von Bagdad organisierte sogar regelmäßig einen Polemik-Wettbewerb, in dem Muslime, Juden und Christen in poetischen Polemiken die Religionen der Anderen kritisierten. Man könnte deshalb einen Zusammenhang erkennen zwischen dem Selbstbewusstsein, der Tolerierung von persönlichen Freiheiten und dem kulturellen Boom, den der Islam im Mittelalter genoss“.
Klischee-Vorstellungen und Vorurteile auf beiden Seiten
Wer will es dem seit 15 Jahren in Deutschland lebenden Muslim Abdel-Samad verübeln, dass er in seiner Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Befindlichkeit des Islam zu einem skeptisch-pessimistischen Schluss gelangt und eigentlich nur Rückschritte seit dieser mittelalterlichen Blütezeit registriert? Wo blieb die Toleranz und Gelassenheit gegenüber Andersdenkenden und Anhängern anderer Religionen? „Die Dünnhäutigkeit der Muslime von heute und die Beharrung auf den Symbolen sind deshalb ein Ausdruck der Schwäche, das Ergebnis eines unzeitgemäßen Hierarchieverständnisses im Islam und führen weite Teile der islamischen Welt in eine zunehmende Isolation und verstärken ihr Gefühl der Erniedrigung. Zwischen dem Westen und der islamischen Welt findet derzeit quasi überhaupt keine gesunde Kommunikation statt“.
Das „chronische Beleidigtsein der Muslime“ mag sicher auch Teil der Erblast kolonialer Erniedrigungsprozesse sein, aber letztlich, so konstatiert Hamed Abdel-Samad, würden immer die anderen für die eigene Misere verantwortlich gemacht: „Egal, was die Kolonialherren gemacht hätten, sie hätten nur alles falsch machen können: Als sie sich, wie die Engländer, kulturell in den Kolonien nicht einmischten, hieß es, sie seien gleichgültig und wollten lediglich die Ressourcen der Muslime rauben. Als sie Schulen und kulturelle Einrichtungen aufbauten, wie in den französischen Kolonien üblich, hieß es, sie wollten missionieren und die islamische Kultur unterwandern. Es herrschte sowieso die Vorstellung, dass aus dem Land der Ungläubigen nichts Gutes kommen konnte. Diese physische Barriere stand immer zwischen der islamischen Welt und dem Westen“.
Aber diese auf Klischee-Vorstellungen und Vorurteilen bestehende Barriere existierte ja lange Zeit auch im Westen – nicht nur bei Kolonialbürokraten, sondern auch bei Ethnologen, die sich an den exotischen Merkwürdigkeiten des Orients berauschten und ihre simplifizierenden Projektionen von Arabienfahrern übernahmen. Vor diesem Hintergrund muss etwa das Zitat des lange Zeit in Ägypten tätigen britischen Kolonialbeamten und Autors Lord Cromer (1841-1917) gesehen werden, der in schönster Jingo-Tradition verkündete: „Das Schwert Mohammeds und der Koran sind die beiden schlimmsten Feinde der Zivilisation, der Freiheit und der Wahrheit, welche die Welt je gesehen hat“. Über diese Wechselwirkungen und Beeinflussungen, die das westliche Orient-Bild prägten, hatte der palästinensisch-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said (1935-2003) seine längst zum Klassiker avancierte Studie „Orientalism“ (von 1978) verfasst, über das Orientalisten seit Jahrzehnten kontrovers diskutierten und das gerade in einer (ziemlich grauenhaften) deutschen Übersetzung erschienen ist. Leider geht Abdel-Samad auf diese Aspekte nicht ein; im Literaturverzeichnis ist Saids Standardwerk auch nicht aufgelistet. Vielleicht wirkt diese Debatte inzwischen für Abdel-Samad bereits allzu mumifiziert und erscheint ihm für die aktuelle Islam-Diskussion nicht mehr relevant?
Beeindruckend ist jedenfalls, wie souverän Hamed Abdel-Samad die fiebrig-nervöse Sarrazin-Debatte umgeht – er lässt sich nicht von dieser Fraktion vereinnahmen, will sie aber wenigstens zu Wort kommen lassen. Er geht entscheidenden Aspekten mit einem fulminanten Erkenntnisinteresse auf den Grund und bringt es tatsächlich fertig, den dänischen Kulturredakteur der Zeitung „Jyllands-Posten“, Flemming Rose, in Kopenhagen zu interviewen. Der hatte die umstrittenen Mohammed-Karikaturen als Illustrationen für ein Kinderbuch in Auftrag gegeben, die Millionen von Muslimen in Rage versetzten und militante Islamisten und Attentäter mobilisierten.
Eine brisante Mission für Abdel-Samad: Er als Muslim empfand die Zeichnungen nämlich selbst als reine Provokation und äußerst respektlos, außerdem ist er mit einer Dänin verheiratet und musste sich von anderen Muslimen unerträgliche anti-dänische Hetztiraden anhören. Trotzdem ergab sich mit dem „Ketzer“ ein faszinierender Dialog über Toleranz, Presse- und Meinungsfreiheit und Selbstzensur aus Angst vor Islamisten.
Abdel-Samad wollte nach dem Gespräch mit dem ruhig und sachlich argumentierenden Dänen dieses Interview in einer ägyptischen Zeitung veröffentlichen, für die er auch als Kolumnist schreibt – doch das erwies sich als äußerst problematisch: Man versteckte den Beitrag kurz auf einer Internet-Seite und schon kamen empörte Reaktionen und an den dänischen Redakteur gerichtete Kommentare mit dem Tenor: „Denk zweimal nach, bevor du nach Ägypten kommst, denn sollte ich dich hier erblicken, werde ich deine Leber mit meinen Zähnen fressen!“
Das Grundproblem der chronisch beleidigten Muslime scheint die Unfähigkeit zu sein, sich damit abzufinden, dass die Blütezeit des Islam passe´ ist trotz einer riesigen Glaubensgemeinschaft von über einer Milliarde Gläubigen: „Sie sehen sich immer noch als Träger einer Hochkultur und können sich nicht damit abfinden, dass sie eine führende Position in der Welt längst verloren haben“. Dieses Ressentiment nährt laut Abdel-Samad den Fundamentalismus, den „Herd der islamischen Krankheit“.
Abdel-Samad ist kein tricksender Vereinfacher, sondern ein nachdenklicher Aufklärer, der einem fundamentalen Konflikt unserer Zeit auf den Grund gehen will. Wie er im SPIEGEL-Gespräch (SPIEGEL 37/2010, Online hier) erläuterte, sieht er auch kein Problem darin, trotz des Auseinanderdriftens in konträre sunnitische und schiitische Lager von dem Islam zu sprechen: „Die Unterschiede mögen für Theologen und Ethnologen von Interesse sein, politisch gesehen sind sie ziemlich irrelevant. Wenn es Muslimen um die Einführung von Islamunterricht an europäischen Schulen geht oder wenn sie für eine islamische Organisation den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts beantragen, dann ist immer die Rede von einem Islam. Kaum attackiert jemand den Glauben, dann greifen sie zu einem Taschenspielertrick, um die Kritik abzuwürgen, und fragen scheinheilig: Von welchem Islam ist die Rede?“
Da weder ein moderner Martin Luther noch sonst ein radikaler islamischer Reformer in Sicht sei, so lautet Hamed Abdel-Samads Fazit, sei der Islam als eine antiquierte, von der Moderne völlig überforderte Religion zum Untergang verdammt. Ein wichtiges, packendes, anregendes Buch – obendrein noch glänzend geschrieben.
Peter Münder
Hamed Abdel-Samad: Der Untergang der islamischen Welt. Eine Prognose. Droemer 2010. 240 Seiten. 18,00 Euro. Autorenfoto: ©Droemer Knaur Verlag. Eine Leseprobe finden Sie hier.