Literarische Genies
Harald Bloom stellt auf tausend Seiten Literaturgeschichte die Frage nach dem literarischen Genie.
„Das beste Genie ist das, welches alles in sich aufnimmt, sich alles anzueignen weiß, ohne daß es der eigentlichen Grundbestimmung, demjenigen, was man Charakter nennt, im mindesten Eintrag tue, vielmehr solches noch erst recht erhebe und durchaus nach Möglichkeit befähige…“
Literaturgeschichte als Mosaik
Goethe hatte noch eine klare Vorstellung von einem Genie und zu Zeiten der Romantik und Klassik war die Rede darüber auch noch gang und gäbe. Doch in unseren Zeiten der Stars und Sternchen und einer scheinbar alles erfassenden kulturellen Gleichmacherei hat der Begriff schon etwas anrüchiges, zumindest anachronistisches, bekommen. Diesem Trend zum Trotz wagt es der ebenso renommierte wie streitbare amerikanische Literaturkritiker Harald Bloom in einem 1000-Seiten-Werk die literarischen Genies der Weltliteratur vorzustellen und den Moment des Genialischen näher zu bestimmen. Eine zentrale Maßeinheit für literarischen Genius ist für Bloom neben „Originalität“, „Kühnheit“ und „Selbstvertrauen“ dabei die „Vitalität“: „Wir lesen, weil wir uns nach mehr Leben sehnen – und das kann uns nur der Genius bieten.“
Bloom stellt in „Genius“ aus 2500 Jahren Literaturgeschichte ein schillerndes Mosaik von Platon über Montaigne und Goethe bis zu James Joyce zusammen. Als nicht der Chronologie verhaftetes Ordnungsschema dienen ihm dabei Metaphern aus der Kabbala, die den Schöpfungsprozess umreißen.
Unter dem Cluster der „Keter“, das als Paradox sowohl die Krone wie das Nichts bezeichnet, versammelt er so zum Einstieg Shakespeare, Cervantes, Montaigne, Milton und Tolstoj. Der alles überragende Shakespeare zeichnet sich dabei insbesondere durch seine „Universalität“ und einen ungeheuren Sprachreichtum aus. Ebenso wie bei Tolstoj bewundert Bloom hier die „übernatürlich natürlich wirkenden Figuren“ bei denen die ständige Illusion erzeugt werde, „dass die Natur selbst die Feder geführt habe“. Der „Weisheitsautor“ Goethe stellt für Bloom den „Archetyp des individuellen schriftstellerischen Genius“ dar, der im Gegensatz zu Shakespeare „immer nur sich selbst erschuf“. In diesem Sinne steht in „Genius“ auch immer das Wechselverhältnis von Werk und Leben im Fokus. Bei Cervantes und seinem Don Quijote kommt Bloom so zu dem Schluss, sie seien „dazu bestimmt, gemeinsam ein Ganzes zu bilden“.
Rolle der Literaturkritik
Polemisch grenzt Bloom sich in seinen Betrachtungen gegen die seiner Ansicht nach in Universität und Literaturkritik dominierenden „Literaturpolitisierer und -historisierer“ ab. Er geht hingegen von Werk und Biographie seiner Genies aus, spürt aber ganz besonders auch binnen-literarischen Verbindungen nach. Letzteres bringt ihn allerdings zuweilen in Gefahr, sich allzu sehr in detaillierten Motiv- und Einflussforschungen oder, wie im Fall Baudelaire, in Abgrenzungsversuchen zu Vorgängern und Übervätern zu verlieren. Hier hätte man sich als Leser gewünscht, dass Bloom seine Genies doch ein wenig mehr von innen heraus und ganzheitlicher zum Leuchten gebracht hätte – das Potenzial hätte er dazu ohne Zweifel.
Trotz solch vereinzelter Kritikpunkte ist Blooms „Genius“ ein monumentales und von der Leidenschaft für Literatur durchzogenes Werk von bleibendem Wert. Es bietet jedem Literaturliebhaber eine ungeheuerlich reiche und inspirierende Fundgrube und ist immer wieder für Überraschungen gut – beispielsweise wenn Bloom den Psychoanalytiker Sigmund Freud kurzerhand als „höchst originellen und vitalen Autobiograph und Ich-Dramatiker“ in seine literarischen Genies einreiht.
Als ersten Prüfstein zur Entdeckung von potenziellen Literatur-Genies gibt Bloom seinen Lesern schließlich die folgende Frage an die Hand: „Kann er oder sie mein Bewusstsein erweitern, und wenn ja, wie?“
Karsten Herrmann
Harald Bloom: Genius. Die hundert bedeutendsten Autoren der Weltliteratur. Knaus Verlag. 2004. Geb. 1087 Seite, 49,90 Euro. ISBN 3-61350243-0