Europa hat viele Gesichter
Harold James sucht nach den gemeinsamen historischen Wurzeln Europas und stößt auf eine kaum zu bändigende Flut politischer, wirtschaftlicher und kultureller Strömungen.
Die fortschreitende Globalisierung und die EU-Osterweiterung fordern die Europäer immer öfter zur Selbstvergewisserung und Identitätssuche heraus. Auf politischer Ebene geschieht dies in erster Linie im Rahmen der Diskussion über eine gemeinsame europäische Verfassung. Auf historischer Ebene wird hingegen nach den gemeinsamen kulturellen, politischen und ökonomischen Wurzeln gefragt, die der britische Wirtschaftshistoriker in dem bis heute anhaltenden Modernisierungs- und Rationalisierungsprozess erkennt. Damit räumt er dem 20. Jahrhundert zu Recht eine Schlüsselstellung in der europäischen Geschichte ein. So wertet er die beiden Weltkriege und den Kalten Krieg als Fall Europas, während er die letzten zehn Jahre als Aufstieg begreift, der sich vor allem im „wachsenden Stellenwert moralischer Maßstäbe in der Politik“ manifestiert.
Geschichte macht vor Jahreszahlen nicht halt
Diesen Prozess zeichnet er in Dekaden nach, ergänzt durch tieferschürfende Exkurse, wie beispielsweise zur Entwicklung des Sozialismus in Osteuropa nach 1945. Eine Periodisierung, die allerdings an ihre Grenzen stößt, wenn subtilere und fortdauernde Kräfte den Geschichtsverlauf prägen. So beschreibt James die sechziger Jahre als ein von Autonomie und Innovation bestimmtes „Goldenes Zeitalter“, dessen Licht- und Schattenseiten er zwar knapp skizziert, aber ihren Einfluss auf die heutige Politik und Gesellschaft nicht hinreichend analysiert.
Wirtschaftshistorisch fundiert, zitatreich garniert
Die Stärken des Buches liegen eher in den fundierten wirtschaftshistorischen Deutungen und der dichten Erzählweise, die der Autor durch Literatur- und Filmzitate aufzulockern weiß, wie etwa sein Hinweis auf die satirische Verfremdung eines Lenin-Zitats zeigt. Aus Lenins Forderung nach einer Verkleinerung des Parteiapparates „Lieber weniger, aber besser“ wird in Ernst Lubitschs Komödie „Ninotschka“ von 1939 ein zynischer Seitenhieb auf Stalins „Große Säuberungen“: „Bald wird es weniger, aber bessere Russen geben.“
Solch interessante Fundstücke können aber nicht jene übergreifenden Gedanken oder anregenden Thesen ersetzen, wie sie Dan Diner in seinem brillanten Buch „Das Jahrhundert verstehen“ formuliert hat. Entschädigt wird der Leser jedoch durch eine informative, vielseitige und flüssig geschriebene Zusammenschau, die dem primär mit der nationalen Geschichte vertrauten Laien auch die Geschichte der europäischen Nachbarn nahe bringt.
Jörg von Bilavsky
Harold James: Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Fall und Aufstieg 1914-2001.
Aus dem Englischen übersetzt von Udo Renner, Martin Richter und Thorsten Schmidt.
Verlag C.H. Beck, München 2004. Gebunden. 580 Seiten. 29,90 Euro. ISBN 3-406-51618-1.