Faszinierendes Roadmovie
Mit einem starken Roadmovie voller bizarrer Bilder und Zufälle betritt Holger Geyer die literarische Bühne.
Chlodwig Beck ist ein merkwürdiger Mann: „Entrückt und teilnahmslos agiert er in einer Art virtueller Realität“ und steht unbeholfen neben seinem eigenen Schicksal – und das ist für einen Tornado-Piloten des Jagdbombergeschwader 36 in Seydlheim alles andere als eine ideale Voraussetzung.
Chlodwig Beck ist der wenig heldenhafte Protagonist von Holger Geyers höchst erstaunlichem und eigenwilligem Debut-Roman „Baikonur“. In einem virtuosen Wechsel von Rückblenden und Gegenwarts-Szenen entfaltet sich ein packendes Roadmovie mit bizarren Ereignissen sowie ungeheuerlichen Ein- und Zufällen. Vorangetrieben wird der Roman durch den gemeinsamen Traum der hier schicksalhaft zusammengewürfelten Luft- und Raumfahrt-Besessenen: Der Flug zu den Sternen.
Ins Rollen kommen die Ereignisse nach dem Absturz von Chlodwig Beck mit seinem Tornado in einen stillgelegten Vergnügungspark und dem plötzlichen Auftauchen eines Briefes seiner verschwundenen ersten Ehefrau Andrea. Der Brief weist nach Ungarn und Chlodwig Beck kauft sich einen schwarzen Volvo 740 GLE, Bj. 84, um sich auf die Suche zu machen und Aufschluss darüber zu finden, was sie „aus dem Haus und in den Tod getrieben hat.“
Auf der Fahrt gesellen sich der windige Autohändler Van Hulsen und Margret, die ehemalige Angestellte der Staatlichen Raumfahrtbehörde, zu Beck. Von ihnen erfährt er, dass er der Besitzer der letzten Sojus TM 20 ist, die auf dem Weltraumbahnhof Baikonur vollgetankt darauf wartet, zu ihrem letzten Flug zur Raumstation Mir aufzubrechen – die Suche nach Vergangenheit verknüpft sich mit der Aussicht auf die Erfüllung eines ewigen Traumes und führt über die Tschechei, Slowakei, Ungarn und durch tief verschneite kasachisch-russische Steppen: „Die Landschaft ringsum ist ein Monument aus Eis, silberblau, glitzernd, apokalyptisch.“
Holger Geyer gelingt es in seinem Debut auf meisterliche Weise, eine spannende Story zu erzählen, die von surrealen Blitzen durchzogen ist und in der die überaus präsenten Charaktere und Ereignisse auf immer wieder verblüffende Weise miteinander verknüpft werden. Der 1962 in Thüringen geborene Autor führt mit seiner knappen und intensiven Prosa in einen faszinierenden Raum jenseits der spröden Alltags-Ratio und erzeugt Ausnahmezustände, die an Filme von David Lynch erinnern. Am Ende eines langen Weges, der in einem Roadmovie im Zweifel schon immer selber das Ziel ist, leuchtet die Erkenntnis: „Der Weg zu den Sternen steht offen…“
Textauszug:
„Gegen vier wacht er auf, benebelt, mit hämmernden Kopfschmerzen und hat wieder Andrea vor Augen. Wie sie in der Küche sitzt und einen Zettel schreibt, wie sie fast in Zeitlupe aufsteht, wie sie sich ihren Mantel überzieht, sich noch einmal umblickt, dann die Tür aufstößt und für immer verschwindet. Und dann sieht er den Detektiv, der gestikulierend vor ihm steht und fast eine halbe Stunde Anlaufzeit braucht, um auszusprechen, dass er ihr Grab gefunden hat, sich aber aus Gründen, die er nicht nennen will oder darf, standhaft weigert zu verraten, wo.“
Karsten Herrmann
Holger Geyer: Baikonur. Tropen-Verlag, 277 S., 38 DM. ISBN 3-932170-39-3