Kraftvoll, ergreifend
– Ein junger Bosnier sitzt mit seinem jüngeren Bruder und den Eltern im Sommerhaus. Der Vater leugnet, die Mutter spricht es aus: „Es wird Krieg geben.“ Sophie Sumburane hat Ismet Prcic’ Debütroman gelesen.
Der Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 ist schon einmal erfolgreich literarisch verarbeitet worden mit „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ von Saša Stanišić. Ismet Prcic wählt einen neuen literarischen Weg. Einen grandiosen, mitreißenden, der einen zum Schreien bringt. Einen Weg, von dem der Leser am Ende nicht mehr weiß, ob man selbst, der Autor autobiografisch oder eigentlich alle und doch niemand den Weg gegangen ist.
„Scherben“ ist dabei mehr als nur ein Titel. Es steht für ein junges Leben, das in Scherben zerfällt, für ein Land, eine Ethnie, die in Scherben liegen. Meisterlich verbindet Prcic diese Welt in Scherben mit seiner Literatur in Scherben. Textscherben.
Der Protagonist, der wie auch der Autor Ismet Prcic heißt, konnte dem Krieg in seiner Heimat entfliehen, ließ sein Leben zurück in der umlagerten Stadt Tuzla, seine Eltern, seine erste Liebe. Im ersehnten freien Land, den USA, merkt er, dass er Tuzla nie verlassen hat. Der Krieg hat ihn traumatisiert. Er zuckt bei jedem Knall zusammen, bringt sich vor einem fehlzündenden Auto in Sicherheit, die Menschen meiden ihn, er trägt eine Waffe, trinkt zu viel, kommt nicht klar.
Jemand rät ihm, seine Erlebnisse aufzuschreiben. In seinem Tagebuch erlebt Ismet seine Jugend erneut, süße Erinnerungen an das Sommerhaus, seine Eltern, Frieden.
Die Wahrheit aber steht in seinen verzweifelten Briefen an mati, seiner Mutter. Geschickt verwebt Prcic die Realität mit Fiktion, lässt seinen Protagonisten Dinge erleben, die er vielleicht gern erlebt hätte „Jeder ist der Held seiner eigenen Märchen“, denkt Ismet. „Ich habe kein Heimweh, mati. Ich bin die ganze Zeit daheim. In der Vergangenheit. In der Fiktion.“
Der junge Bosnier in Kalifornien versucht, die Scherben seines Lebens in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Doch wer ist Mustafa? Der Junge, mit dem Ismet, der dem Kriegseinsatz durch seine Flucht entgangen ist, zusammen gemustert worden ist. Der Junge, der angeblich bei einem Bombenanschlag in Tuzla ums Leben kam und sich trotzdem immer wieder in Ismets Erinnerungen drängt, seine Erinnerungen übernimmt, bis Ismet anfängt zu zweifeln, der Leser anfängt zu zweifeln.
Was ist real? Wer ist real?
Mustafa, der im Krieg in einer Sondereinheit grausame Dinge gesehen und erlebt hat, oder der schauspielende Ismet, der mit seiner Laienschauspieltruppe emigrieren konnte? Ist die Schauspielerei für Ismet vielleicht eine Flucht im eigenen Land? Gibt es überhaupt eine Möglichkeit zur Flucht?
Die Schauspielerei Ismets dient dem Autor durch den Mund seines Protagonisten dazu: „der Welt zu zeigen, dass es in Bosnien Schönheit gab, und wir nicht nur die Opfer von Geisteskranken waren, Experten im Leiden, verzweifelt um Hilfe Bettelnde, die in ihren Städten vor sich hin vegetierten und darauf warteten, gerettet zu werden, während die Welt auf CNN zusah.“
Wer Ismet Prcics Worte liest, glaubt nicht mehr daran, dass man vor sich selbst fliehen kann. Mal sprachgewaltig, mal nüchtern, mal in der Ich-Form, mal in der Er-Form beschreibt Prcic das Leben im bosnischen Bürgerkrieg.
Mal gefühlvoll mit Emotionalität in jedem Wort, das den Leser die Nähe des Autors zum Erzählten spüren lässt. Dann wieder ironisch komisch, aus dem Leben eines scheinbar unbeschwerten Jugendlichen, der versucht zu verdrängen: „Ich blendete einiges aus, wenn ich mit meinen Freunden zusammen war. Wir vermieden es, über Politik und Religion zu sprechen. Stattdessen zogen wir, allesamt geil und verliebt, durch die Straßen. Wir schrammelten auf verstimmten Gitarren, erzählten einander Lügengeschichten über sexuelle Erfahrungen, tauschten italienische Comics und deutsche Pornos, rissen eklige Witze und schimpften über die Schule.“
Erschreckend, wie Bombenhagel zur Normalität werden kann. Wie ein Leben, das nur den Krieg kennt, eigentlich kein Ziel hat, aus dem Krieg heraus. Denn wer vorher nichts kannte, wonach sollte er sich sehnen?
Freiheit. Und dann?
Ismets Eltern kannten ein Leben vor dem Krieg. Der Vater versucht es unaufhaltsam aufrecht zu erhalten, leugnet die Kämpfe, bis die erste Granate praktisch vor seine Füße fällt. Die Mutter zerbricht immer mehr, ruft um Hilfe, niemand hört sie. Leben im Krieg. Selbst in Kalifornien, für Ismet Prcic, den Bosnier, der eine Waffe trägt.
Ismet Prcic hat einen Debütroman geschrieben, den er in seiner Danksagung als „mein Buch“ bezeichnet, was er den Leser auf wundervolle Weise in jeder Zeile spüren lässt. „Scherben“ ist zu Recht in den USA, wo es erstmalig erschien, mit Lob überschüttet worden. Prcic gibt vielen Bosniern und anderen (Bürger-)Kriegsüberlebenden eine starke Stimme, die dem Leser das Gefühl gibt: Wenn ALLE dieses Buch lesen und verstehen würden, könnten wir die Welt ein wenig besser machen. Und das, ohne auch nur ein einziges Mal den sprichwörtlichen „belehrenden Finger“ auch nur anzudeuten.
Das Schlusswort auf dem Buchrücken stammt von Saša Stanišić. Dem Autor, der mit seiner Aufarbeitung zum Bosnienkrieg unter anderem den Deutschen Buchpreis gewann: „… irgendwann weinte Mutter leise, und ich dachte: Was für ein großartiges Buch, was stellt es mit uns an!
Sophie Sumburane
Ismet Prcic: Scherben. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Conny Lösch. Berlin: Suhrkamp Verlag 2013. Gebunden. 445 Seiten. 21,95 Euro. Verlagsinformationen zum Roman. Webseite des Autors. Zur Homepage von Sophie Sumburane.