Anwalt der Underdogs
Schon in seiner grandiosen Marseille-Trilogie rund um den melancholischen Polizisten Fabio Montale hat Jean-Claude Izzo den Zugewanderten, Ausgestoßenen und Gescheiterten der französischen Gesellschaft ein besonderes Augenmerk geschenkt. In „Die Sonne der Sterbenden“ beleuchtet er nun in halb-dokumentarischer Weise das Leben auf der Straße und rückt das immer noch romantisierende Bild vom weinseligen Clochard zurecht.
Gleich im Prolog erleben wir das würdelose Sterben von Titi, der den „Winter in sich trägt“ und Tag für Tag immer mehr den Boden unter den Füßen verliert. Das Leben zwischen Pariser Metrostationen, Abbruchhäusern, Obdachlosenasylen und Schließfächern hat ihn aufgefressen. Titis Tod ist für seinen Freund Rico das Signal zu einem letzten Auf- und Ausbruch: Voller „Sehnsucht nach einem verlorenen Glück“ beschließt er, nach Marseille zu gehen – dieser Stadt mit ihrem Überschwang an Farben, Gerüchen, Geräuschen und „der ewigen blauen Weite“ bis zum Horizont.
Endstation Sehnsucht
Auf dem Weg nach Marseille, auf dem Rico einmal mehr die Schikanen von Bahn-Kontrolleuren, schwarzen Sheriffs oder Skinheads erfährt, rollt Izzo in Rückblenden die Vergangenheit seines Protagonisten Rico auf. Er zeigt, wie dessen Traum von einer kleinen Familie im eigenen Häuschen platzt und wie nun die ungeheure Erniedrigung tagtäglich in Unmengen von Alkohol ertränkt werden muss. Es bleibt eine Sehnsucht, die in diesem Leben keine Chance mehr auf Erfüllung hat. Der 1945 in Marseille geborene Jean-Claude Izzo erzählt Ricos Geschichte in einer schlichten und ergreifenden Prosa, die hin und wieder auch die Nähe zum Pathos und Klischee nicht scheut. „Die Sonne der Sterbenden“ ist dabei eine Art „Doku-Fiction“, in der Izzo, wie er selbst sagt, „die Logik des Realen auf die Spitze getrieben“ hat. In einer Zeit, in der Zynismen und Provokationen in der Literatur Hochkonjunktur haben, zeigt uns der Anfang 2000 verstorbene Jean-Claude Izzo einmal mehr, wie Literatur ganz ohne Zeigefingerpädagogik ein soziales Gewissen entwickeln kann.
Karsten Herrmann
Jean-Claude Izzo: Die Sonne der Sterbenden. Aus dem Französischen von Ronald Voullié. Unionsverlag 2004. 250 Seiten. 16,90 Euro. ISBN: 3-293-00320-6