Leidenschaftliches Portrait der Stadt Marseille
„In Marseille muss man sogar kämpfen um zu verlieren.“ Um so mehr, je weniger man zu verlieren hat. Manuel, Ugo, und Fabio haben nichts zu verlieren. Sie sind Einwandererkinder, unerwünscht im eigenen Land, aufgewachsen in einem Klima aus Gewalt, Unterdrückung und Armut. Sie prügeln sich, saufen, koksen, hören Musik und träumen von einer Zukunft, die sie nicht haben. Aber auch die schönste Freundschaft zerbricht einmal: Manuel und Ugo werden kriminell, der sensible Fabio wird ausgerechnet Polizist. Doch kein besonders guter. Mehr Sozialarbeiter als Law-and-order-Cop durchstreift er die Viertel seiner Kindheit und kümmert sich resigniert und unentschlossen um die chancenlosen Großstadtjugendlichen, deren Aggressivität und Hoffnungslosigkeit er genau kennt. Nichts berührt ihn wirklich: „Die alten Kumpel, die nicht mehr anriefen. Meine Träume und meine Wut, die ich auf Halbmast gesetzt hatte. Ich wurde wunschlos alt. Ohne Leidenschaft.“
Erst als Manuel und kurz darauf auch Ugo erschossen werden, erwacht Fabio aus seinem künstlichen Schlaf. Und zum Leben. Er möchte wissen, warum seine Freunde sterben mussten und steckt bald in einem blutigen Kampf gegen eine übermächtige Phalanx aus Zuhältern, Mafiabossen, Polizisten und Neonazis, die die Macht in Marseille unter sich aufgeteilt hat.
„Total Cheops“ ist ein leidenschaftliches Portrait der Stadt Marseille, ihrer Geschichte, ihrer Frauen, ihrer Straßen, der Farben, der Gerüche, des Essens. Immer wieder zerfallen Izzos atemlose Sätze zu Fragmenten, zu einzelnen Worten. Der poetische Stil ist Annäherung an eine schwer zu fassende Stadt: „Marseille ist keine Stadt für Touristen. Es gibt dort nichts zu sehen. Sie teilt sich mit.“ Man muss sie spüren. Izzo bringt die Stadt zum Leuchten, zeigt sie strahlend und verdreckt, zärtlich und korrupt, voller großer Gefühle und herzzerreißender Geschichten:
„Hier muss man Partei ergreifen. Sich engagieren. Dafür oder dagegen sein. Leidenschaftlich sein. Erst dann wird sichtbar, was es zu sehen gibt. Und dann ist man mitten in einem Drama. Einem antiken Drama, in dem der Held der Tod ist.“
Jean-Claude Izzo beschreibt ein Frankreich voller Rassismus und Hass, ein Frankreich, in dem eine immer stärker werdende Rechte von einer ausländerfreien Nation träumt und in dem die Bewohner der verslumten Einwandererviertel um ihr Leben fürchten. Dies ist der knallharte politische Hintergrund seines von Pathos, Poetik und Pathologie bestimmten Marseille-Entwurfs. Und mit kämpferischer Unbedingtheit bezieht Izzo Stellung: „Ich weiß, wo ich zu Hause bin: bei denen, die nichts als ihre Hände haben um, sich zu ernähren, und die in der Hoffnung leben, dass der politische Kampf verbindet und Kraft gibt.“
Am Ende ist der Tod der Freunde gerächt und Fabio Montale hat sich entschieden. Gegen die Polizei und für seine Stadt: für Marseille und ihre traurigen, zerrissenen, tragischen Bewohner.
Jan Karsten
Jean-Claude Izzo: Total Cheops:Taschenbuch – 250 Seiten – Unionsverlag Erscheinungsdatum: 2000 ISBN: 3293201644