Geschrieben am 20. Juni 2012 von für Bücher, Litmag

Jean-Marie Blas de Roblés: Wo Tiger zu Haus sind

Ein brodelnder literarischer Dschungel

– Mit dem auf Goethes „Wahlverwandtschaften“ verweisenden „Wo Tiger zu Hause sind“ legt der gebürtige Algerier Jean-Marie Blas de Roblés einen ebenso opulenten wie kaleidoskopischen Roman vor, in dem verschiedenste Welten und Zeiten aufeinander treffen. Von Karsten Herrmann

Im Zentrum des knapp 800seitigen Romans steht der im brasilianischen Nordosten lebende französische Pressekorrespondent Eléazard. In seiner reich bemessenen Freizeit arbeitet er an der Herausgabe der Biographie des deutschen Jesuiten Athanasius Kircher.

Dieser war ein Universalgelehrter des 17. Jahrhunderts, der mit Inbrunst Kuriosa aus aller Welt sammelte und wissenschaftliches Neuland eroberte. So begeisterte er sich ebenso für Bakteriologie wie für Ägyptologie und Alchemie, erfand eine Vielzahl kurioser Gerätschaften wie auch einen Vorläufer der Laterna Magica. Trotz solcher Errungenschaften und Entdeckungen bleibt der durchaus auch dilettierende und sich irrende Kircher für  Eléazard in einer Art Hassliebe „ein Exzentriker, ein Künstler des Scheiterns und des falschen Scheins.“

Kirchers Lebensgeschichte bildet den historischen, zuweilen allzu breit ausgebreiteten Hauptstrang in Blas de Roblés Roman und wird ergänzt durch mehrere parallel verlaufenden Erzählstränge aus der Gegenwart. So bricht Eléazards geschiedene Frau, die Geologin Elaine, zu einer Expedition in den brasilianischen Urwald auf, die zu einem lebensgefährlichen Horrortrip mit Drogenschmugglern und apokalyptischen Ureinwohnern wird. Ihre gemeinsame Tochter Moreira, die Ethnologie studiert und auf der Suche nach den Wurzeln des Seins ist, verliert sich zusammen mit ihrer Freundin Thais und ihrem Dozenten Röttgen in einer Welt des Rausches und der ungehemmten sinnlichen Ausschweifungen.

© Phillippe Matsas, Quelle: Homepage

Eleázard selber kommt zusammen mit der jungen Italienerin Loredana den üblen Machenschaften eines mächtigen Provinz-Gouverneurs auf die Spur und lässt noch einmal das Aufkeimen der Liebe zu. Nicht zuletzt führt Blas de Roblés den Leser mit dem aus den Favelas stammenden Krüppel Nelson und seiner Liebe zu dem legendären Banditen Congaco auch tief in die erschütternde, von Gewalt und Ungerechtigkeit bestimmte soziale Wirklichkeit Brasiliens.

„Wo Tiger zu Haus sind“ ist ein in barocker Opulenz erzählter Roman, ein ebenso farbenprächtiger wie verschlungener und brodelnder Dschungel voller Abenteuer, Liebe, Philosophie, Rausch und Mythos. Blas de Roblés verschränkt die einzelnen Stränge nur punktuell und lässt einige Fäden auch ins Leere auslaufen. Ihm geht es nicht um eine lineare und kohärente Romanhandlung, sondern um die Welt in aller ihrer Fülle und Widersprüchlichkeit.

In der Tradition von Jorge Luis Borges spielt Blas de Robles dabei auch mit den Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit, von intellektuellem Schwindel, Wahrheit und Plagiat: „Ist die Wahrheit nicht letzten Endes immer dasjenige, was uns hinreichend erscheint, um es als solche zu akzeptieren?“

Karsten Herrmann

Jean-Marie Blas de Roblés: Wo Tiger zu Haus sind (Là où les tigres sont chez eux, 2010). Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer 2012. 800 Seiten. 26,99 Euro. Zur Homepage des Autors geht’s hier. Foto: Copyright © Phillippe Matsas, Quelle: Homepage.

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