Socken und Jahre
Alles verschwindet, nur das Verschwinden nicht. Und ist es nicht seltsam, wie viel Melancholie das Wort umweht? Sollten wir uns nicht freuen, dass Pest und Pranger verschwunden sind, jedenfalls bei uns? Aber daran denken wir selten. Eher besinnen wir uns unter stummen Seufzern auf das, was ein Stück Leben mit sich nahm. Jenny Erpenbeck breitet es in 31 Miniaturen vor uns aus. Von Gisela Trahms
Nicht nur von verschwundenen Dingen wird hier erzählt, auch von Menschen, Gewohnheiten, Gefühlen und Wörtern. Es geht um Entgleiten, Verluste, Vermissen, Vergessen und die so verschiedenen Arten, damit „fertig zu werden“ (aber manche Abwesenheit bleibt anwesend, lebenslang, siehe das Kapitel „Männer“). Insofern ist der Titel des Buches allzu bescheiden. Es folgt der immer noch gültigen Maxime: „Umarme, was verschwindet, mittels der Schrift.“
Also schreibt Jenny Erpenbeck auf: „In letzter Zeit sitze ich oft jemandem gegenüber, der noch vollkommen lebendig ist, und schaue ihn dennoch an, als sei er schon verschwunden. Ich sortiere dann, halb hoffend, halb voller Scham, aus dem noch laufenden Film die Momentaufnahmen heraus, als könnte ich meine Erinnerungen im vorhinein auswendig lernen …“ Und sie fragt sich, ob und wie man sich an sie erinnern wird, z. B. an ihr Naseputzen. Oder an ihre Knie. Ja, „Zukünftige Erinnerungen an meine Knie“ wäre auch ein guter Titel gewesen.
Die schönsten Kolumnen (denn um solche handelt es sich) sind die, in denen die Erzählerin es ernst meint. Mein Favorit heißt „Miezel“ und handelt auf unsentimentale und sehr anrührende Weise von einer ehemaligen Nachbarin. Ein Mosaik für sich bilden die Alltagsbeobachtungen aus Berlin: über den Palast der Republik in verschiedenen Stadien der Auflösung, die Sperrmülldeponie, Hinterhöfe, Kindergärten, Gegenden. Oft witzig, oft handfest. Sehr persönliche Texte sind der Mutter-und-Sohn-Erfahrung gewidmet. Wer ein Kind hat wie Jenny Erpenbeck, verortet sich in einer Generationenfolge und ist nicht mehr first in line, sondern gleitet trotz Vorwärtsbewegung rückwärts, dorthin, wo die Verschwundenen warten.
Als Sammel- und Wunderbüchse (ein Kapitel heißt „Krempel“) enthält das Buch die stillschweigende Aufforderung, ein Duplikat für das eigene Leben anzulegen. Lohnend wäre das bestimmt. Freilich könnten wohl nur Wenige einen Umzug so plastisch schildern wie Jenny Erpenbeck: „Wenn man ein Hotel verläßt, sieht man oft die Türen schon verlassener Zimmer offenstehen, die geben den Blick frei auf zerwühlte Laken, leere Flaschen, zerknülltes Papier, Kippen und Asche. Jetzt sieht der geborgte Ort, an dem wir vier Sommer verbracht haben, nicht viel anders aus als so ein verlassenes Hotelzimmer. Als ich abfahre, passe ich kaum in das Auto hinein, weil so vieles an mir festgewachsen ist und mit mir verschwinden muß, wenn ich verschwinde.“
In seiner Konzentration aufs nachvollziehbare Detail gleicht das Büchlein einer Stimmgabel, die einen Ton zum Mitsummen anstimmt, oder einem Gespräch unter Frauen, das von Thema zu Thema springt. Seine Lektüre täte aber vielen Ich-bin-wichtig-und-wahrscheinlich-wichtiger-als-du-Männern ausgesprochen gut. Auf jeden Fall ist es ein ideales Geschenk für alle, mit denen wir ein Stück Weg geteilt haben oder immer noch teilen und die nicht aus unserem Leben verschwinden sollen. Und wenn wir am Schluss angelangt sind (vielleicht wiederum seufzend), wünschen wir uns baldmöglichst eine Fortsetzung: „Dinge, die erscheinen.“ Oder: „Naher Trost.“
Gisela Trahms
Jenny Erpenbeck: Dinge, die verschwinden. Berlin: Verlag Galiani 2009. 94 Seiten. 14,95 Euro.