Geschrieben am 13. Februar 2004 von für Bücher, Litmag

Jochen Schmidt: Müller haut uns raus

Großartiger Erzähler

Jochen Schmidt hat mit „Müller haut uns raus“ einen begeisternden Debut-Roman vorgelegt, der schon fast in einer Reihe mit Salingers Der Fänger im Roggen“ oder Plenzdorfs Die Leiden des jungen W.“ genannt werden darf.

Seit dem Gewinn des „Open Mike-Wettbewerbs“ 1999 und dem kurz darauf erschienenen Kurzgeschichtenband „Triumphgemüse“ gilt der junge Berliner Jochen Schmidt als vielversprechendes Erzähltalent. Nun hat er mit „Müller haut uns raus“ einen begeisternden Debut-Roman vorgelegt, der schon fast in einer Reihe mit Salingers „Der Fänger im Roggen“ oder Plenzdorfs „Die Leiden des jungen W.“ genannt werden darf.

Jochen Schmidts offensichtlich autobiographisch angehauchter Ich-Erzähler wird im Jahr 1998, kurz vor dem fieberhaft erwarteten WM-Endspiel, von einem leicht kafkaesken Schicksalsschlag getroffen: Er erwacht mit einer halbseitigen Gesichtslähmung und wird, mit dem „Status des Leidenden“ geadelt, in eben jenes Krankenhaus eingewiesen, in dem er auch geboren wurde. Da die Ärzte ratlos vor seinem Krankheitssymptom stehen, verordnet sich Schmidts Protagonist anstelle einer medizinischen Pathogenese eine radikale Erinnerungskur und lässt die Jahre nach der Wende launisch Revue passieren.

In der entscheidenden Phase zwischen Jugend und Erwachsenwerden lernen wir so einen jungen Mann kennen, bei dem es keine Spur von der „Ich bin gut drauf und will meinen Spaß“-Lebensmaxime der „Generation Golf“ gibt. Stattdessen begegnet uns ein nachdenklicher Zweifler und melancholischer Träumer, für den die real existierende Wirklichkeit schlichtweg eine Zumutung ist. In einer Welt ohne feste Orientierung sucht er einen eigenen Weg, ohne sich zu verbiegen und zu verraten. Denn, so fragt dieser Anti-Held schelmisch, ist es denn „ein Verbrechen, im Leben nur spazieren und lesen zu wollen?“

Zusammen mit dem Ich-Erzähler streifen wir durch das noch von einem leichten nostalgischen Hauch umwehte und doch im radikalen Umbruch befindliche Ost-Berlin der Nachwendezeit. Überall tauchen hier plötzlich bunte Werbetafeln an den Häusern auf, die Curry kostet das Doppelte und die „gelben quietschenden Straßenbahnen aus Holz verschwanden am Horizont“. Vor dieser plastisch geschilderten Kulisse treibt sich Schmidts Protagonist – immer schön mit Hemd und Pullover ausstaffiert – mit einer (Pseudo-) Künstler-Clique in besetzten Häusern herum, eifert mit einem „Lenin-Monolog“ Heiner Müller nach, dilettiert als Gründungsmitglied der Punk-Band „Krampf und Krise“ oder wirkt bei einer avantgardistischen Performance zu Kafkas „Strafkolonie“ mit.

Während des folgenden Studiums der Mathematik und der Romanistik bricht er mit unglaublich wenig Geld in der Tasche auf, um die weite Welt und natürlich auch die Liebe zu erkunden: Sein Weg führt ihn von einem anthroposophischen Bauernhof in der französischen Provinz über das deprimierende, neblig-nasse Brest und das sonnige Valencia bis in den ungeheuerlichen Moloch New York: „Ich war wieder einen ganzen Tag durch die Stadt gelaufen und einer Million Menschen begegnet, ohne ein Wort zu sagen.“

Jochen Schmidt erzählt die Geschichte seines Anti-Helden mit erfrischendem Schwung, feinem Humor und einer exquisiten Selbstironie. Durch einen genauen Blick für den Reiz der kleinen alltäglichen Dinge und Marotten schafft er eine dichte poetische Atmosphäre. Mit großer Leichtigkeit und gleichzeitigem existentiellen Tiefgang führt er uns einen Menschen vor Augen, der sich ohne Furcht und Tadel einer Welt und einem Selbst voller Rätsel und Befremdlichkeiten stellt. Denn, so heißt es ebenso augenzwinkernd wie tiefgründend: „Ein Werk schafft man nur im Krieg mit sich selbst.“

Karsten Herrmann

Jochen Schmidt: Müller haut uns raus. C.H. Beck, 350 S., 19,90 Euro. ISBN: 3-406-48699-1