Geschrieben am 20. Februar 2004 von für Bücher, Litmag

Jochen Schmidt: Triumphgemüse

Vollbluterzähler

Mit einem breiten Spektrum von skurrilen Charakteren und sensiblen Alltagsbeobachtungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart schafft er hier einen funkelnden Erzählkosmos von großer atmosphärischer Dichte.

Beim vorletzten Open Mike, der Berliner Talentbörse des deutschen Literaturbetriebs, wurde Jochen Schmidt von der Jury für seine Erzählung „Harnusch mäht als wärs ein Tanz“ mit dem Prädikat „Vollbluterzähler“ und einem der drei Preise ausgezeichnet. Prompt setzten sich daraufhin die Scouts der Verlage auf die Spuren des Talents und als Sieger des Rennens kann der Beck-Verlag nun einen gar nicht einmal so schmalen Erzählband präsentieren.

Um es gleich vorwegzunehmen: Jochen Schmidt stellt in „Triumphgemüse“ überzeugend unter Beweis, dass Harnusch, der beim Sensen so unvergleichlich mit seinen kurzen Beinen über die Wiese tanzt, keine einzelne Schwalbe ist, die noch keinen Sommer macht. Mit einem breiten Spektrum von skurrilen Charakteren und sensiblen Alltagsbeobachtungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart schafft er hier einen funkelnden Erzählkosmos von großer atmosphärischer Dichte. Leise und sensibel nähert sich Jochen Schmidt seinen Figuren und ihrer (Ost) Geschichte, in welcher auch immer wieder der Zauber und auch Schrecken einer Kindheit auf dem Lande mitschwingt. Er schaut den Leuten dabei genau auf’s Maul und läßt sie – häufig berlinernd oder im Oderbrucher Platt – auf schnoddrig-gefühlvolle Art in ihrer ganzen Eigenart präsent werden: sei es den namenlosen melancholischen Theatergänger, den verschroben-garstigen Herrn Tatziet, den arbeitslosen Drucker Maik oder den bisher verkannten jungen Schriftsteller Jürgen Reip.

Dessen Geschichten durchziehen wie ein roter Faden den ganzen Erzählband und bringen uns mit einer gehörigen Portion (Selbst-) Ironie die Schwierigkeiten einer Schriftstellerexistenz nahe, die durch die furchtbar tiefen Abgründe zwischen dem banalen Alltag und der schönen Fiktion mit ihren „hoffnungslos übersteigerten Träumereien“ zerrissen ist. Auf der einen Seite wird so im Café ästhetisch hochvirtuos über die formalen und inhaltlichen Essenzen von Baudelaire, Mallarmé, Dr. Faustus oder auch Verena Auffermann diskutiert und die eigene heroisch-umständliche Existenz schonungslos durchleuchtet: „Ich stand vor meinem Schicksal in der Pflicht. Ich mußte endlich wieder etwas tun, was mich in Frage stellte, man konnte nicht immer nur gleichmäßig und stetig an sich arbeiten, man mußte von Zeit zu Zeit genau das tun, was man eigentlich nie tun würde“. Doch auf der anderen Seite bleibt die entscheidende und mit einem Bataillon von Selbstzweifeln, Schlachtplänen und vorgreifenden Simulationen verbundene Frage stehen, wie man, um Gottes Willen, dem Mädel hinter der Theke einfach nur sagen kann, dass man es gerne etwas näher kennenlernen würde?

Über den engen Horizont von Oderbruch und Berlin hinaus verschlägt es diesen Jürgen Reip auch auf eine Sprachreise nach Moskau, wo er nicht nur im mehr oder minder stummen Dialog mit Lenin und der schönen Bulgarin Stella steht, sondern sich auch wunderbaren und hier abschließend zitierten Assoziationen über das Ankommen des Schriftstellers in der Fremde hingibt:
„Das gleiche Gefühl wie am ersten Abend in Rom, allein in einer Pizzeria des Viertels, die Wand schmückt ein ungeschickt gemalter Radsportler. Dunkelheit, schmale Bürgersteige, die von Autos zugeparkt sind. Aber es wird Frühling. Die fremden Geräusche, der eigene Kopf, der wieder mit sich zu sprechen beginnt. Plötzlich in der Fremde und erfrischt von der eigenen Unsicherheit. Das gleiche Gefühl wie an einem heißen Mittag in Valencia, allein auf der Straße, weil hier um diese Zeit niemand aus dem Haus gehen würde. Jedes Wort muß erkämpft sein, aber manchmal schenken einem die Menschen ihre Gesprächsfetzen, ohne es zu ahnen. Das gleiche Gefühl wie in New York […] und dann in Brest am Morgen der Ankunft, auf der Rue Jan Jaurès, die Nacht über hatte es geregnet. Der bucklige Teer und der fanzösische Mülle in den Ecken. Womit wird mir dieser Ort einmal wichtig werden? Damit. Daß ich mich für ihn entschieden habe? Er hatte ja immer Angst, die Orte, an denen er sein Leben selbst erfunden hatte, wiederzubetreten und etwas nicht wiederzufinden oder totzutreten. Waren es nicht schon zuviele solcher Gefühle? Manchmal vergaß er sie, aber dann brachen sie plötzlich hervor, und es schnürte ihm die Kehle zu, weil er den, den er damals war, nie wiedersehen würde.“

Karsten Herrmann

Jochen Schmidt: Triumphgemüse. Beck, 248 S., 34 DM