Leukotrychie wg. Oligochäten oder: Klugscheißen zweiten Grades
– Jochen Schmidt stärkt nicht nur regelmäßig die Nationalmannschaft der Autoren, er stemmt auch staunenswerte Projekte. Jeden Tag zwanzig Seiten Proust lesen und hinterher wird ein hoch gepriesenes Buch daraus. Oder den Duden durchforsten und zu jedem Buchstaben einen Kurztext erfinden („Dudenbrooks“). Oder einfach mal Griechisch lernen, Altgriechisch natürlich. Das Graecum zu machen war „eine der schönsten Erfahrungen meines Lebens“, so Schmidt. Kein Wunder also, dass wieder eine Serie daraus wurde und jetzt ein Buch. „Schmythologie“ heißt es, „Wer kein Griechisch kann, kann gar nichts“ verkündet der Untertitel, und genau dieses schmerzliche Gefühl haben wir, die eng auf Engl/Frz Beschränkten, ja auch schon länger.
Jetzt also wird unserer Unfähigkeit abgeholfen. Nicht mit Mythen, alt oder neu, wie der Titel vermuten lässt, sondern mit Wörtern, Begriffen, Bezeichnungen, die sich von Sokrates bis Safranski erhalten haben. Banause zum Beispiel, Amethyst und Pantoffel. Oder, schon schwieriger, Propemptikon und Apopemptikon, was sich verheißungsvoll und irgendwie bedeutend anhört, aber eine Sitte bezeichnet, die glücklicherweise verschwunden ist. Auf jeder rechten Seite des Buches steht solch ein Griechenwort, und gern möchte man es sich einprägen, schon weil es Eindruck macht.
Die kürzeren kriegt man ohne weiteres in den Kopf („Saprobiont“), mit den längeren („Pentakosiomedimnoi“) outet man sich dann als Klugscheißer, vielleicht sogar zweiten Grades, wie das Vorwort darlegt. Man kann die Wörter aber ebenso gezielt wieder vergessen (auch eine Leistung!), damit der Genuss beim zweiten und dritten und zehnten Durchgang noch wächst. Denn ein bisschen egal ist es ja schließlich, wie das Wort genau lautet, viel wichtiger sind die Texte, die darunter stehen. Die sind bei Jochen Schmidt immer Schmidt, also fabelhaft.
Und damit nicht genug, gibt’s auf der linken Seite ein Bild von Line Hoven, das immer Hoven ist, also zum Niederknien. Keine bloße Illustration, sondern lauter zauberhafte, ganz eigene Phantasien in einer ganz eigenen, eindrucksvollen Schabetechnik, der man die Mühe nicht ansieht. Linke und rechte Seite ergänzen sich perfekt, deshalb stehen die Namen Schmidt und Hoven auch gleichberechtigt auf dem Cover. Eine schiere Augenweide, das Ganze, bis hin zu Satz und Schrift.
Viele Wochen lang (genauer gesagt, 71!) habe ich mich Samstag für Samstag daran erfreut, als die Serie in der FAZ-Beilage „Bilder und Zeiten“ lief. Das ist jetzt vorbei, die ganze Beilage ist vorbei, leider, umso lebhafter freut man sich über das Buch. Ein Geschenk, für das man kein Graecum besitzen muss. Empfänglichkeit für Schwarz und Weiß, Eleganz und Einfälle, Witz und Melancholie reicht vollkommen.
Gisela Trahms
Jochen Schmidt/Line Hoven: Schmythologie. Wer kein Griechisch kann, kann gar nichts. Verlag C.H.Beck, München 2013. 160 Seiten mit 71 Illustrationen, 2 Vignetten und farbigem Vorsatz von Line Hoven, gebunden. 18,95 Euro. Abbildungen: Copyright C.H.Beck.